Entspannte Fahrt im ziemlich vollen ICE nach Berlin, unterwegs Lektüre in Online-Reiseführern: was weiß ich denn eigentlich über das Baltikum und Polen und, über die Orte, die wir sehen werden? Ehrlich gesagt, ist es erschreckend wenig. Also lassen wir uns überraschen…
Am späten Nachmittag kommen wir – mit der bahntypisch obligatorischen halben Stunde Verspätung, sozusagen pünktlich – in Berlin an. Gerade eben muss hier ein Gewitterregenschauer niedergegangen sein; die Straßen sind nass mit Pfützen, die Luft ist schwülwarm und der Himmel bewölkt.
Berlin ist immer eine Reise wert, aber diesmal ist es bloß eine Durchgangsstation: Abendessen in einer gemütlichen Hinterhofkneipe im Bezirk Mitte, ein Bier im Prenzlauer Berg, morgens ein Abstecher zur Mauer-Gedenkstätte und – quasi als Kontrastprogramm – ein bisschen DDR-Ostalgie in einem Trödelladen auf der Oderbergstraße. Dann zurück zum Hauptbahnhof.
Pünktlich gegen viertel vor 2 rollt der Berlin-Warszawa-Express heran.
Wir sind nicht die Einzigen, die einsteigen wollen: der Zug wird rappelvoll. Aber keine Angst, wir haben reservierte Plätze, sogar in der Ersten Klasse, geht ja auch gar nicht anders, denn der Zug ist reservierungspflichtig. Zu früh gefreut!
Der Zug besteht aus Abteilwagen, in der Ersten wie in der Zweiten Klasse, unser Abteil ist mit 6 Leuten komplett besetzt und zwei davon haben die Statur von Sumo-Ringern. 6 Stunden lang eingequetscht wie in einer Sardinenbüchse – das klingt nicht unbedingt nach entspanntem Reisen.
Ist der Speisewagen eine Alternative? Der ist richtig gemütlich und schon kurz hinter Berlin gut besucht. Es riecht nach frisch gekochtem Essen – das wird hier tatsächlich an Bord zubereitet und nicht bloß als Fertigportion aus dem Kühlschrank geholt und in der Mikrowelle aufgewärmt. Aber sechs Stunden hier zuzubringen, das wäre schon den anderen Reisenden gegenüber nicht fair.
Wir ziehen um in ein nicht ganz so volles Abteil und hoffen inständig, nicht irgendwo unterwegs nochmal umziehen zu müssen, denn die Reservierungen sind nirgendwo angezeigt.
Es geht los, in gemächlichem Tempo durch Brandenburg, durch Kiefernwälder und Landwirtschaft, vorbei am Tesla-Werk Grünheide, und dann kommt auch schon der Grenzbahnhof Frankfurt an der Oder.
Von hier aus im Schrittempo in Richtung Grenze und dann ein Halt auf freier Strecke. Das ist wohl immer so, da die Lokomotive vom deutschen aufs polnische Stromsystem umgeschaltet werden muss. Nach ein paar Minuten geht’s normalerweise weiter – heute aber nicht.
Eine gute halbe Stunde, vielleicht auch länger, stehen wir irgendwo kurz vor der Oderbrücke zwischen Güterzügen herum. Die Türen lassen sich öffnen – rein theoretisch könnte man aussteigen und sich zwischen den Gleisen die Beine vertreten – was man natürlich tunlichst unterlassen sollte. Dann geht es weiter, gemächlich über die Grenze, erster Halt Rzepin, ein Bahnhof, der noch ein bisschen postsozialistische Patina hat.
Die weitere Fahrt ist entspannt und unspektakulär: Flaches bis leicht welliges Land, Felder und Wiesen, hin und wieder mal ein Stück Wald und etwa jede halbe Stunde ein Halt in einem Ort mit unaussprechlich erscheinendem Namen. Von den meisten habe ich noch nie gehört und habe ein schlechtes Gewissen angesichts der Tatsache, wie schlecht ich unser Nachbarland kenne.
Am Abend dann Ankunft im unterirdischen Warschauer Zentralbahnhof. Mit der Rolltreppe geht’s ans Tageslicht und dann finden wir uns am Rande eines wuseligen Einkaufszentrums wieder. Links davon eine moderne Hochhaus-Skyline und rechts im goldenen Abendlicht der Kultur- und Sportpalast aus den frühen Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, ein Hochhaus im sozialistischen Zuckerbäckerstil, welches wie die Kopie eines frühen amerikanischen Wolkenkratzers wirkt und tatsächlich zu seiner Zeit eines der höchsten Gebäude Europas war.