Cafe Hawelka, Wien
Ich war schon lange nicht mehr im Hawelka. Das Kaffeehaus steht in jedem Reiseführer. Es hat eine lange Geschichte und früher einmal trafen sich hier die Revoluzzer und Literaten um Revolutionen zu planen oder darüber zu schreiben. Vor ein paar Jahren noch war die Luft hier zum Schneiden und dicke Tabaksqualmwolken waberten durch den Raum, über die abgeschabten Polstermöbel hinweg, an den mit Plakaten beklebten Säulen vorbei, zwischen den befrackten Kellnern hindurch…. und nichts entging den Augen der betagten Seniorchefin, die auch mit fast neunzig Jahren noch das Regiment führte und hereinkommende Gäste zu freien Tischen dirigierte.
Jetzt ist sie nicht mehr da. Dahin gegangen, wo man mit über neunzig Jahren gehen darf. Aber immer noch gibt es jeden Abend um zehn Uhr frische Buchteln.
Mein Bier kommt auf einem kleinen Silbertablett.
Keine zwei Minuten, nachdem ich Platz genommen habe, schlurft ein Typ an meinen Tisch: Anfang Zwanzig, fettiges Haar, speckiger Anorak.
Er sei Straßendichter, sagt er, und will mir ein Gedicht verkaufen, in Form eines handgeschriebenen, fotokopierten Blattes.
Zwanzig Cent soll es kosten, oder gerne auch mehr, wenn ich ihn bei seiner geplanten Karriere unterstützen möchte. Ich gebe ihm einen Euro, und erst als er schon weg ist fällt mir ein, dass ich mir ja eigentlich das Blatt von ihm hätte signieren lassen sollen, denn wer weiß, vielleicht wird er ja wirklich noch einmal berühmt.
Ein Stadtheuriger in Wien
Ein Stadtheuriger, irgendwo im ersten Bezirk, einen Steinwurf vom Stefansdom entfernt. Kopfsteinpflastergassen, Gewölbedecken, rustikales Interieur mit groben Holztischen und die Biedienungen tragen Schürzchen und Hütchen mit karierten, betont bäuerlichen Mustern. Es gibt… alles, was es in Heurigenlokalen halt so gibt, also Wein – nicht nur heurigen Wein – in allen Geschmacksrichtungen und Preisklassen, als Glas, Flasche oder Karaffe, und natürlich gibt’s auch Bier und vorne eine Theke, an der man sich das Essen bestellen kann, also deftig-bäuerliche Kost wie Speck und Knödel und Käse und Würste jeder Art. Die Tische sind groß und der Gräuschpegel ist erheblich, so dass man einander fast anschreien muss, will man mit seinem Gegenüber kommunizieren. Weiter gesteigert wird der Lärmpegel dann durch die Musiker, die in Heurigenlokalen leider oft unvermeidlich sind, hier vorhanden in Form eines Geigers, eines Gitarrenzupfers und eines Akordeonspielers. Es wird also gefiedelt, gezupft und gequetscht, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Endlich ein Aufatmen, als sich das Musikantentrio um die Ecke verzogen hat und die Gäste im Nebenraum belästigt… äh beglückt, der Lärmpegel sinkt ein wenig und dann…. plötzlich ist es still.
Der Fiedler fiedelt weiter, aber ganz leise und unaufdringlich. Gitarrenzupfer und Quetschkomodenquetscher halten still. Und diese Stimme?
Was ist das für eine Stimme?
Da singt jemand! Aber wie!
Eine Opernarie vom Feinsten!
Ich bin nun wirklich kein Musikexperte und Gesang war noch nie meine Sache und Opernarien schon gar nicht…. aber diese Stimme… einfach genial… himmlisch….. köstlich!
Leute stehen von ihren Tischen auf und drängen sich vor den Torbogen, der den Durchgang zum Nebenraum freigibt. Auch ich stehe auf.
Und dann sehe ich sie: eine bildhübsche junge Frau mit langen, dunklen Haaren und zarten, fast, aber nicht ganz asiatisch wirkenden Gesichtszügen, sitzt da ganz locker an einem Tisch, vor sich ein Glas Bier, ihr gegenüber zwei Männer… und sie singt.
Sie beendet das Lied und als alle Gäste applaudieren, wird sie ein wenig rot. Sie schaut nicht ins Publikum, spricht nur kurz mit den Musikern, die gleich noch ein Stück anspielen, und sie singt weiter…. und noch ein Stück….
Ein Grüppchen von Engländern lässt sich mit ihr fotografieren. Mit einem Ohr kriege ich mit, dass sie aus Südafrika kommt, seit ein paar Monaten in Wien lebt und tatsächlich an der Oper singt.
Später dann ist sie weg. Die Musiker fiedeln weiter und einer der Engländer – ungefähr so um die Sechzig und nicht mehr ganz nüchtern – steigt auf eine Bank und imitiert den Can-Can…
Schneematsch in Wien
Im Nieselregen gehe ich durch den Prater, die Hauptallee entlang. Die Temperatur ist knapp über dem Gefrierpunkt, der Schnee schmilzt und das Schmelzwasser friert zu Glatteis. Ich nehme die Straßenbahn zurück in die Stadt und flüchte mich in das Einkaufszentrum im Bahnhof Mitte – alles ist geschlossen, nur die Buchhandlung hat geöffnet. Ich kaufe einen Reiseführer für Venedig und noch einen für Triest, dann gehe ich einen Kaffee trinken…
Wien Westbahnhof: Es geht kein Zug nach Nirgendwo
Lichter der Stadt. Autoscheinwerfer und Rücklichter, die sich in Regenpfützen spiegeln. Leuchtreklamen, Straßenlaternen, das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt, das Rumpeln von Straßenbahnen und auf den Laufbandanzeigen an den Haltestellen steht: „Achtung Glatteis!“. In den Parks liegen noch Schneereste. Ich ziehe meinen Rollkoffer über Bürgersteiger, Bordstein rauf, Bordstein runter, Klappe den Mantelkragen hoch beim Warten im Nieselregen und esse ein Stück Spinatpizza mit viel Knoblauchsoße, das Ding vorsichtig auf dem Pappteller so balancierend, dass mir die Soße nicht über die Kleidung tropft. Ich habe Zeit. Ich habe viel Zeit. Ich habe noch Zeit für einen Kaffee in meinem Lieblingscafehaus, das liegt direkt an der U-Bahn-Haltestelle, und die Bahn braucht genau neun Minuten. Fünf Minuten bis ich unten am Bahnsteig bin. Fünf Minuten warten. Neun Minuten Fahrt. Fünf Minuten von der U-Bahn zum Zug. Zeit, um in Ruhe auszutrinken und mich dann auf den Weg zu machen
Natürlich bin ich ein bisschen nervös. Natürlich habe ich ein bisschen Herzklopfen, wenn es auf die große Reise geht… eine Reise in einem Nachtzug, Schlafwagen, Einzelabteil. Ich freue mich auf das sanfte Schaukeln, das Rattern der Räder über die Schienen, das gelegentliche Quietschen von Bremsen und die geheimnisvolle Stille, wenn der Zug irgendwo stehenbleibt, vor einem Signal oder in einem Bahnhof – vielleicht noch mit quäkender Lautsprecheransage, dann das Geräusch von Zuschlagenden Türen, eine Trillerpfeife und das Rattern, welches dann wieder anhebt…. und am nächsten Morgen ist man dann, etwas verknittert vielleicht, in einer fremden Stadt, in der man sich erst einmal orientieren muss und es ist wie ein Geschenk, welches man ganz geruhsam auspacken muss.
Ja. Darauf freue ich mich also. Ich trinke meinen Kaffee aus, winke der Bedienung, bezahle, greife Mantel und Koffer und gehe hinaus in den abendlichen Nieselregen…. überquere die Straße zur U-Bahnstation, fahre mit dem Aufzug hinunter in den Untergrund, warte vier Minuten, fahre neun Minuten, steige aus und schwebe auf Rolltreppen allmählich nach oben.
Der Westbahnhof wurde vor wenigen Jahren umgebaut zu einer Art großartigem Einkaufszentrum mit Bahnanschluss und alles wirkt noch neu und sauber und wuselig voller Menschen. Menschen, die in den von brusthohen Marmorwänden abgetrennten Sitzgruppen die in den verschiedenen Fastfood-Outlets gekauften Mahlzeiten verzehren, Menschen die auf Züge warten, Menschen, die gerade angekommen sind…
Ich habe immer noch Zeit.
In dem kleinen Lebensmittelladen reicht die Schlange vor der Kasse bis zurück zum Ausgang, aber es geht erstaunlich schnell. Zwei kleine Fläschchen Bier für einsneununddreißig.
Alles wegstecken, den Geldbeutel auch und dann ohne Hektik zum Bahnsteig: Nachtzug nach Venedig, über Salzburg, Villach und Tarvisio Boscoverde.
Bin ich hier richtig?
Menschen stehen in Grüppchen und diskutieren.
Was gibt’s?
„Nach Venedig fahren wir heute nicht!“ sagt ein Typ, der zwar keine Uniform trägt, aber trotzdem so etwas wie eine offizielle Funktion zu haben scheint.
„Und wie komme ich dahin?“ fragt eine Dame.
Der Typ zuckt mit den Schultern.
„Nach Salzburg können’s fahren. Oder auch bis nach Villach. Da ist aber Feierabend. Morgens um halb fünf. Das macht kaum einer!“
„Wie kommt man von dort aus weiter?“
„Gar nicht. In Italien steht alles unter Wasser. Heut geht gar nichts. Morgen auch nicht. Übermorgen wissen wir nicht!“
Meine sorgfältig geplante Italienreisepläne haben sich soeben in ein Nichts zerschreddert.
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