Sibiu - der große Platz bei Nacht

Von Arad nach Sibiu

Nach dem Frühstück lasse ich mein Gepäck im Hotel und gehe in die Stadt. Schon am Vormittag ist es drückend heiß. Die Innenstadt ist gepflegt und könnte sich genauso gut auch in Südfrankreich, Italien oder sonst irgendwo im Mittelmeerraum befinden. Obwohl sie – beim genauen Hinsehen – nicht mediterran, nicht westeuropäisch, sondern „typisch mitteleuropäisch“ wirkt: Der Baustil dieser Prachtbauten – Klassizismus, Neo-Renaissance, K.u.K-Zuckerbäckerstil, das kennt man aus Wien und Orten in Österreich, Tschechien, Ungarn oder anderen Teilen der ehemaligen Donaumonarchie – zu der Arad seinerzeit ja wohl so gerade noch gehörte.
Der Platz hinter dem Theater, wo gestern Abend das Leben tobte, ist jetzt menschenleer. Nur die Autos brausen weiter. Und plötzlich fällt mir auf: diese Stadt mit über hunderttausend Einwohnern, in der es Straßenbahnen gibt, hat keine Fußgängerzone! Nur diesen breiten Boulevard. Gut, es gibt breite Bürgersteige zu beiden Seiten und darauf zahlreichen Straßencafés, die sich abends in gemütliche Kneipen und Restaurants verwandeln, es gibt auch einige Plätze mit Grünanlagen, Bänken und Brunnen – aber mitten durch die Innenstadt donnert tags wie nachts der Autoverkehr. Und der treibt mich bei dieser Hitze in den Wahnsinn!
Ich flüchte in die Seitenstraßen. Auch hier schicke Gebäude, die Universität, der Kulturpalast, und eine Villa, die gerade umgebaut wird, hier sollen schicke, teure Wohnungen rein. Und selbstverständlich auch eine Tiefgarage.
Am Ufer finde ich einen großzügigen Park, mit großem Kinderspielplatz und vielen Sitzbänken und kleinen quadratischen Tischen, auf denen Schachbretter aufgemalt sind. Auch hier ist es noch warm, aber die Bäume bieten ein bisschen Schatten.
Ich begebe mich in den Biergarten, in dem ich gestern schon war. Er hat geöffnet, und die Bedienung erkennt mich wieder. Aus den Lautsprechern dudelt Lounge-Musik, vielleicht ein bisschen zu laut für diese Tageszeit, aber vom Fluss her weht eine frische Brise und vor allem gibt’s hier keinen Autolärm.
Hier kann man es aushalten und es gibt keinen Grund, mich in den nächsten Stunden von hier fortzubewegen, zumindest so lange nicht, bis ich mich auf den Weg zum Bahnhof machen muss um in den Zug zu steigen, der sich vom Rand der ungarischen Tiefebene durch das Karpatenvorland ganz langsam und gemächlich in Richtung zur geographischen Mitte des Landes bewegen wird, tief hinein ins Herz von Transsylvanien… der deutsche Ausdruck „Siebenbürgen“ klingt irgendwie viel langweiliger.
Eine vertrauenswürdige Elektrolokomotive, vier blaue Wagons, altmodische Sechser-Abteile mit Fenstern, die man öffnen kann. Mir gegenüber ein älterer Herr mit Baseballmütze, Amerikaner, vermute ich mal. Neben ihm eine Dame mit weißen Haaren und ein Junge im Teenager-Alter, Großmutter und Enkel, schätzungsweise.
Der Zug folgt einem Flusslauf, gesäumt von bewaldeten Hügeln, die noch keine richtigen Berge sind. Der Amerikaner schaut neugierig nach draußen, der Junge spielt mit seinem Handy, die Großmutter versucht zu schlafen, keiner sagt ein Wort.
Es gibt weder Steckdosen noch W-Lan. Manchmal geht’s ein bisschen schneller, dann noch langsamer als langsam. Man baut wohl an einer Neubaustrecke, die sieht man manchmal halbfertig auf der anderen Flussseite, mit neuen Bahnhöfen und Bahnsteigen ohne Namen. Die Berge werden höher und sehen richtig wie Berge aus. Großmutter und Enkel unterhalten sich leise.
Deba ist die erste größere Stadt, die wir passieren, hier gibt es eine berühmte Festung. Der Junge macht ein Foto. Weiter geht’s durch ein weites Tal mit Sonnenblumenfeldern, dann halten wir in Simeria, ein breiter Bahnsteig vor einem ziemlich neu wirkenden Bahnhofsgebäude, allerdings ist hier kein Mensch zu sehen.
Hier werden die vorderen beiden Wagons abgekuppelt, sie fahren mit einer frischen Elektrolokomotive nach Cluj-Napoca, während die beiden hinteren Wagons eine halbe Stunde lang auf eine Diesellokomotive warten müssen. Fahrgäste steigen aus, um sich die Füße zu vertreten oder zu rauchen.
Als ich wieder einsteige, hat sich noch eine junge Frau zu uns gesellt und alle sind fröhlich miteinander im Gespräch. Der Amerikaner ist wirklich Amerikaner und unterwegs zu einem Pfadfinderlager in den Bergen.
Die Lokomotive pfeift immer wieder, es geht jetzt durch Täler und Tunnel, vorbei an Bergen, über eine Hochebene, alles ist sehr grün. Gegen 8 Uhr abends kommen wir in Sibiu an.
Durch eine etwas gammelige Bahnhofsgegend gehe ich in Richtung Altstadt und stehe plötzlich auf der herrlichen, belebten Piața Mare, dem großen Hauptplatz (oder „Großem Ring“, wie die deutsche Bezeichnung lautet): Rathaus und katholische Kirche, die Fassaden der Bürgerhäuser frisch gestrichen, Kopfsteinpflaster, Cafés, Kneipen und Restaurants und überall Menschen.
Nachdem ich mich im Hotel kurz frischgemacht habe, mache ich mich gleich wieder auf den Weg, um alles anzuschauen, solange es noch hell ist: den „Großen“ und den „Kleinen Ring“, enge Gassen und Torbögen, die deutsche evangelische Kirche, dahinter eine Herberge für durchreisende Handwerksgesellen „auf der Walz“, die „Lügenbrücke“ und lauter schön renovierte und bunt gestrichene Altbauten.
Ich finde ein gemütliches Lokal und lasse den Tag bei Klaviermusik ausklingen: einfach hier sitzen und den Moment genießen.

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