Der Regionalzug – ein moderner, klimatisierter Dieseltriebwagen – ist ziemlich voll, aber sauber und fährt pünktlich ab. Ganz langsam geht es durch eine sanfthügelige Mittelgebirgslandschaft, die Berge sind grün bewaldet, einmal passieren wir einen Stausee und an den kleinen Unterwegsbahnhöfen stehen die Stationsvorsteher mit Mütze und Kelle bereit.
Bei Copșa Mică erreichen wir die zweigleisige und elektrifizierte Hauptstrecke. In Mediaș erneut ein längerer Halt, der Schaffner tritt hinaus auf den Bahnsteig und raucht eine Zigarette.
Pünktlich kommen wir in Sighișoara an. Der Himmel ist bewölkt, auf dem Bahnsteig sind Pfützen. Ist das gruselig genug für den angeblichen Geburtsort von Graf Dracula?
Ich erwerbe mein Ticket für die morgige Weiterfahrt und mache mich auf den Weg. Eine schmale Straße führt durch ein Wohngebiet bergab: flache ein- bis zweistöckige Häuser mit Gärten. Ich überquere den Fluss, finde mein Hotel und nach einer Atempause ziehe ich los in die Stadt.
Die dunklen Wolken haben sich längst wieder verzogen. Gleich jenseits der Durchgangsstraße beginnt die „Unterstadt“, eine Zeile alter Häuser schmiegt sich direkt an die Felswand, dann kommen ein paar Restaurants und Kopfsteinpflastergassen, die bergan zur alten Stadtmauer mit dem „Stundturm“, dem wohl berühmtesten Wahrzeichen der Stadt. Gleich dahinter liegt das angebliche Dracula-Geburtshaus und dann kommt der Burgplatz. Ich bin erstmal enttäuscht. Ceaucescu wollte die gesamte Altstadt wohl am liebsten abreißen, geht das Gerücht. Einer seiner örtlichen real-kapitalistischen Nachfolger wollte ein großes Dracula-Disneyland bauen. Daraus ist zum Glück nichts geworden, aber viel hat nicht gefehlt: Innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer liegt ein Touristenlokal neben dem anderen, dazwischen Souvenirläden, Eis- und Süßigkeitenstände.
Am oberen Ende des Burgplatzes führt eine holzverkleidete, überdachte Treppe (die „Schülertreppe“), wie ein Tunnel hinauf auf den Berg zu dem altehrwürdigen Gymnasium und der Kirche.
Eine steile Straße führt, am deutschen Friedhof vorbei, zurück in die Stadt. Ich setze mich in dem kleinen Park an der Stadtmauer auf eine Bank und blättere im Reiseführer.
Nach sechs Uhr hat sich die Altstadt schon deutlich geleert, die Touristengruppen sind wieder weg. Und jetzt habe ich diese wunderschönen Gassen mit den urigen, liebevoll restaurierten und knallbunt angestrichenen Häuschen fast für mich allein. Ich gehe an der Stadtmauer entlang, an den Türmen und Toren vorbei und wieder zurück durch die engen Gässchen, mache Fotos und irgendwann entdecke ich ein Restaurant in einem urigen Innenhof.
Auf dem Weg zurück passiere ich noch einmal die Unterstadt, auch hier gibt es noch alte Gebäude und einen kleinen Park, und es sieht viel städtischer aus als oben, hier tobt das Leben, hier scheinen sich die Einheimischen zu treffen.
Diese Stadt hat Dracula gar nicht nötig! Auch wenn man ihm, also Vlad Tepes, irgendwo oben auf dem Burgplatz ein Denkmal gesetzt hat.
