Ich habe den Wecker auf viertel vor sieben gestellt, der düdelt auch los und eine Viertelstunde später stehe ich auf. Soll ich versuchen, den Acht-Uhr-Zug zu erreichen? Andererseits möchte ich gerne nochmal an den Strand… und Hektik kann ich sowieso nicht gebrauchen, also in aller Ruhe packen und dann erstmal frühstücken.
Ich lade mir den Teller viel zu voll: leckere Salate, Quarkspeise, Joghurt, Rührei und drei Brötchen. Dazu kriege ich eine ganze Thermoskanne voll Kaffee auf den Tisch gestellt, aber am Kaffee nippe ich nur, der ist viel zu heiß. Das Hotel steht in der Tradition der Kur-Hotels, mit angeschlossener Massage- und Physiotherapiepraxis, sie bieten auch Ausflüge und Abendveranstaltungen wie Vorträge und Konzerte an, viele Gäste kennen sich untereinander und die meisten sind im Rentenalter.
Das dritte Brötchen kriege ich wirklich beim besten Willen nicht mehr reingewürgt, packe es ein und breche auf. In einer guten halben Stunde geht mein Zug. Somit hätte ich noch eine Viertelstunde, um nochmal an den Strand zu gehen… na denn, nix wie los! Das Gepäck lasse ich an der Rezeption, sprinte durch die Dünen, fünf Minuten bis zur Wasserkante, fünf Minuten durchatmen und fünf Minuten zurück, dann rolle ich mein Köfferchen zum Bahnhof.
Das Dörfchen schläft noch, fast alle Geschäfte sind geschlossen. Um zehn vor acht bin ich am Bahnhof, da sind schon mehrere Leute mit Gepäck. Ich filme den einfahrenden Zug, dann steige ich ein. Es geht über die Insel, dann über die Brücke aufs Festland, über flaches Land, vorbei an Windrädern und Sümpfen, durch Nadel- und Buchenwälder.
In Züssow fährt am Nachbargleis ein IC ein, der kommt aus Binz und fährt nach Berlin. Das passt ja perfekt!
Der Zug ist ziemlich voll, zwei junge Männer unterhalten sich in sonorem Ton über Bundeswehr-Geschichten. Ich döse ein und als ich aufwache, kurz vor Berlin unterhalten sich die Bundeswehrleute immer noch. Der eine steht auf, packt seinen voluminösen Rucksack, wirft dem Anderen eine Visitenkarte mit Bundeswehr-Logo und Wappen hin, verabschiedet sich mit Handschlag, und steigt aus in Berlin-Gesundbrunnen aus.
Kurz darauf sind wir am Hauptbahnhof, da muss ich raus.
Ich filme den Bahnhof: Bahnsteige unten im Keller, mit dem Aufzug hoch, Bahnsteige oben, Rolltreppen, den Blick zur Reichtagskuppel vom Vorplatz. Und wie komme ich jetzt weiter? Da habe ich die Qual der Wahl, entweder über Kassel und Fulda, oder über Leipzig und Jena.
Schnell noch eine Zeitung gekauft, einen Latte Machiato getrunken und dann runter zum Bahnsteig, wo der Zug nach München über Leipzig schon bereit steht.
Er ist nur mäßig voll. Zwei ältere Frauen verscheuchen einen jungen Mann von ihrem reservierten Platz, obwohl es wirklich genug freie Plätze gibt. Ich habe Geschmack am Reisen gefunden und will noch irgendwo zwischendurch aussteigen, weiß aber noch nicht wo.
In Leipzig filme ich den Bahnhof, steige aber wieder ein. Der Zug wechselt die Fahrtrichtung und ist deutlich voller geworden. Nebenan ein Großelternpaar mit vielleicht fünfjährigem Enkel, sie haben einen Tisch in Beschlag genommen, der ist jetzt voll mit Stofftieren, die Oma verteilt Butterbrote. Bei Naumburg wird das bislang ziemlich flache Land etwas hügeliger.
Ankunft vor am Bahnhof Jena Paradies. Ich steige aus: Eigentlich ist das nur eine Haltestelle: zwei Gleise, zwei Seitenbahnsteige, drunter eine Bäckerei und ein kleines Reisezentrum, draußen ein paar Schließfächer, die kosten hier zwei Euro.
Zur einen Seite hin liegt Grünfläche, eine Art Park, da fließt wohl die Saale vorbei. In die andere Richtung geht’s in die Stadt.
Was für eine Stadt ist das? Vorm Bahnhof führt eine vielbefahrene Hauptverkehrsstrasse entlang, die den Bahnhof von der Stadt trennt. Ich überquere eine ziemlich unübersichtliche Kreuzung. Straßenbahnen rattern vorbei. Ein Schild weist in Richtung „Centrum“, das kann also nicht weit sein. Auffällig sind die zahlreichen Baulücken. Auf einem Baulückengrundstück steht ein Döner-Verkaufswagen, der Döner für zwofuffzig.
Durch ein enges Sträßchen kommt man auf die Geschäftsstraße. Ist das schon das Zentrum oder geht’s noch zentraler?
Die Kirche sieht so aus, als könne sie das Wahrzeichen der Stadt sein, daneben ein Hochhaus mit einer Einkaufspassage, firmierend unter der Bezeichnung „Neue Mitte“. Und wo ist die alte Mitte?
Ach ja, da gibt’s noch eine Kirche und ein Gässchen mit Kneipen und Cafés, Kopfsteinpflaster, blauer Himmel, Leute sitzen entspannt in der Sonne und genießen ihren Latte Macchiato, oder was auch immer, für Wein und Bier ist es noch zu früh. Wirklich? Blick auf die Uhr: Kurz vor vier. Wann geht der nächste Zug? Bleiben oder Weiterfahren?
Es gibt noch einen alten Markt und die Einkaufsstraße, die ich vorhin gesehen habe, ist tatsächlich das Zentrum, zumindest heißt die entsprechende Straßenbahnhaltestelle so: „Holzmarkt-Stadtmitte“. Na also, dann habe ich doch alles gesehen, also nix wie weiter.
Jetzt habe ich Jena gesehen. Es gibt schöne alte Gebäude, dazwischen Baulücken, ob noch vom zweiten Weltkrieg, von der Abrisswut der Sechziger oder aus der Postwendezeit: die Zeit wirkt, als habe sie Wunden, irgendwie noch unvollkommen, zusammengestückelt. Das ist mein Eindruck, mein ganz oberflächlicher Eindruck nach einem einstündigen Zwischenstopp.
Ich gehe zum Bahnhof zurück. Sechzehn Uhr zehn. Der Zug hat fünf Minuten Verspätung und ist nicht so voll wie der vorherige. Ein junges Mädchen telefoniert ziemlich lange, und zwar mit ihrer Mutter. Sie ist –Schauspielerin oder Schauspielschülerin und es geht um Rollen die sie gekriegt hat oder nicht gekriegt hat, Camus sei jedenfalls ziemlich schwierig.
Der Zug fährt an der Saale entlang, die Landschaft wird hügeliger, es gibt Wald, schöne Dörfchen und sogar Felswände. Saalfeld rauscht vorbei. Blick auf die Anzeigeschilder im Bahnhof: „Züge Richtung Saalfeld“- „Züge Richtung Probszella“.
Dann ein größerer Bahnhof namens Probszella: „Hier war damals die Grenze!“, sagt eine ältere Frau.
Hier war die Welt zu Ende.
Ich filme. Wie heißt das westdeutsche Gegenstück?
Ein Bahnhofsschild fliegt vorbei. Von der Grenze ist wirklich nichts mehr zu sehen. Nur Wald und Hügellandschaft. „Steinbach am Wald“, angeblicher „Scheitelpunkt der Frankenwaldbahn mit fünfhundertsoundsoviel Metern. Kronach und Bamberg rauschen ohne Halt vorbei. Jetzt bin ich in Bayern, in Oberfranken. Erlangen. Es wird wieder flacher, der Himmel ist bewölkt, es regnet, dann ein Regenbogen.
In Nürnberg steige ich aus und gehe drei Stunden lang durch die Stadt, mit Koffer im Schlepptau.
Ich war ja schonmal hier: Zum ersten Mal vor Ewigkeiten, nachts, Umsteigen auf dem Weg nach Prag. Nur den Bahnhof gesehen, und der war damals noch viel gammeliger als jetzt.
Dann hin und wieder mal auf der Durchreise oder zum Umsteigen, eigentlich kenne ich nur den Bahnhof und das unmittelbar angrenzende Stück Innenstadt.
Ich gehe durch die Bahnhofshalle in Richtung Innenstadt. In einer Bäckerei hole ich mir ein paar Brezeln. Die Unterführung lässt mich jenseits der breiten Straße, hinter der Festungsmauer ans Tageslicht.
Links von mir der dicke Turm und eine Gasse, in der sich das Handwerksmuseum befindet, rechts ein Kubus aus Glas und Aluminium mit Touristeninfo.
War hier nicht irgendwann mal in grauer Vorzeit das „Komm“? Jenes linksgerichtete Jugendzentrum, ständig vom Abriss bedroht?
Die Fußgängerzone ist halt eine Fußgängerzone mit Kopfsteinpflaster und den üblichen Geschäften. Kopfsteinpflaster mit Rollkoffer ist doof. Auf der Brücke über die Pegnitz stehen ein paar bunte Markstände, sicher ein beliebtes Fotomotiv, dann kommt eine berühmte Kirche, roter Sandstein, der große Marktplatz mit der Kirche, von dessen Balkon aus der Christkindelmarkt eröffnet wird, aber das hat noch ein Dreivierteljahr Zeit. Rathaus, eine italienische Reisegruppe beim „Schönen Brunnen“, überall Kopfsteinpflaster, ich schleppe mein Köfferchen den steilen Hang hainauf auf die Burg.
Auf dem Felsen unterhalb der Burg sitzen Jugendliche und rauchen. Es ist ein herrlicher milder Frühlingsabend, die Vögel zwitschern und der Blick über die Stadt ist…
„Wie schön das hier ist!“, sagt eine ältere Frau, die gerade mit ihrer Familie hier aufgekreuzt ist.
Ich gehe wieder, zerre den Koffer über das Kopfsteinpflaster zurück hinunter in die Stadt, stöbere in Buchhandlungen und Kaufhäusern, es wird acht Uhr, die Geschäfte schließen. Ich habe noch Zeit. Soll ich ein Bier trinken?
Ich gehe am Germanischen Nationalmuseum vorbei, das ist ein riesiger Komplex, mit dieser Gasse, die bei dem Torbogen anfängt, Säulen mit Grundgesetzzitaten in verschiedenen Sprachen. Am Opernhaus überquere ich den Wallgraben, gehe kurz an der vielbefahrenen Strasse entlang, aber hier ist wohl der Rotlichtbezirk mit Toplessbars und Strip-Clubs, also schnell zurück in die Altstadt.
Da ist eine Kneipe, die sieht ganz gemütlich aus, billig ist sie nicht, ein kleines Bier ist paradoxerweise teuerer als ein Großes. Ich setzte mich. An der Bank an der Wand gegenüber schreibt jemand auf seinem Laptop. Keine Bedienung in Sicht. Noch zwanzig Minuten. Ich blättere in einer Zeitschrift, Kellnerinnen hasten vorbei, aber ich schaffe es nicht, mich bemerkbar zu machen, eine Viertelstunde noch, jetzt reicht es gerade mal für einen Espresso. Sieben Minuten später stehe ich ohne Espresso wieder auf und gehe zurück zum Bahnhof.
Der Zug kommt, ich finde einen Platz und setze mich. Hinter mir redet ein Typ pausenlos ohne Punkt und Komma. Erst geht es um den europäischen Nationalcharakter, dann um Schiiten und Sunniten und dann um Rauchverbote. Kurzer Blick nach hinten: Er ist jünger als ich dachte, vielleicht Anfang dreißig, leichtes Übergewicht, Brille, in der Hand eine geöffnete Dose Bier: „Ich war auch schon mal in Israel, auch an der Grenze zum Libanon, die Häuser waren schlecht, zerschossen, du siehst auch Militär, aber nicht so doll. Und von Bangla Desh weiß ich nur, die stehen bis zum Bauch im Wasser. Ich habe meine begrenzte Welt für mich geschaffen… ich habe fünf Ausbildungsplätze abgelehnt…“
Dann geht es um Handys der neuesten Generation, USB-Sticks und andere Gadgets, was sie kosten und was sie leisten können.
Der ICE braucht über die Neubaustrecke eine gute Stunde bis München. Da ist es dunkel.