Von Narvik nach Stockholm

Von Narvik nach Kiruna

Um viertel nach sechs bimmelt mein Handy mich wach – nach vier Stunden Schlaf. Draußen ist es genauso hell wie zuvor um kurz nach zwei.
Ich stehe auf, packe meine Sachen, checke aus und breche auf. Ich muss noch tanken und den Wagen zurück bringen, der junge Mann von der Verleihstation bringt mich zum Bahnhof.
Es ist etwa halb neun. Das Bahnhofsgebäude ist geöffnet, ein einzelner Mann sitzt vor seinem Gepäck auf einer Bank. Er wirkt müde und übernächtigt, versteht kein englisch und wirkt auch nicht skandinavisch, vielleicht kommt er aus Russland. Jedenfalls kann er mir nicht sagen, wo man hier einen Kaffee bekommt.
Das Einkaufszentrum macht erst um zehn Uhr auf, ansonsten ist alles geschlossen.
Ich gehe noch einmal durch die Stadt: der kleine Park mit dem Kriegerdenkmal, das Wohngebiet auf der anderen Seite der Hauptverkehrsstraße: Holzhäuschen, in den Gärten wuchern Gras und Wildblumen, ab und zu Sträucher und Stauden, ganz selten mal ein gemähter Rasen. Frische Luft und Vogelgezwitscher.
Als ich kurz nach neun wieder am Bahnhof bin, warten schon mehrere Leute.
Das also ist Narvik. Den Namen des Ortes kenne ich seit dem Sachkundeunterricht in der dritten Klasse: der nördlichste Bahnhof Europas. Aber heute geht kein Zug, nur ein Bus, der taucht dann endlich auf und fährt pünktlich um halb zehn los.
Zunächst geht’s am Fjord entlang, bis über die Brücke, dann rechts ab hinauf ins Fjäll. Wolken über den schneebedeckten Bergen, und schon bald hat man die Baumgrenze überquert, es geht über Wiesen mit Felsbrocken darauf, flachwellige Landschaft mit Seen und überall Ferienhäuschen, alle paar Meter steht eines, über den ganzen Talboden verstreut. Und immer wieder Schneereste.
Wir erreichen die schwedische Grenze: es gibt noch ein Zollhäuschen, aber der Bus braust ohne Halt daran vorbei. Hinter der Grenze liegt ein Ski-Resort namens Riksgränsen: die Ortschaft besteht fast ausschließlich aus Hotels und Chalets. Einige Leute steigen aus. Kurz darauf kommt Abisko, ein ähnlicher Ort. Dann geht es am Ufer des langgezogenen Sees entlang durch eine karge Steppenlandschaft mit lichten Birkenwäldern dazwischen. Die Sonne kommt raus und jetzt ist die Landschaft wunderschön.
Trotzdem schlafe ich ein und wache kurz vor Kiruna auf. Es ist zwölf Uhr. Wir halten am Bahnhof. Mein Zug steht schon bereit, aber ich habe noch vier Stunden Zeit, also fahre ich weiter in die Stadt – die liegt ein paar Kilometer weiter.
An der Busstation steige ich aus.
Jetzt bin ich also in Schweden. Auf der Hinreise habe ich dieses Land einmal komplett von Süd nach Nord durchquert, habe viel Landschaft gesehen, mich aber nirgendwo aufgehalten. Nach dem Bahnhof von Stockholm ist Kiruna also die erste schwedische Stadt, in der ich ein bisschen Zeit verbringen kann.

Kiruna, die nördlichste Stadt Schwedens – und eine der Seltsamsten

Kiruna ist kein typischer Ort für Schweden. Sogar ein sehr untypischer… und doch auch wieder ein Ort, den ich seit meiner Kindheit, seit dem Sachkundeunterricht in der dritten Klasse kenne: Hier wird das Erz abgebaut, welches dann mit der Erzbahn nach Narvik und von dort mit dem Schiff nach Rotterdam, und von dort mit dem Binnenschiff ins Ruhrgebiet gebracht wird. Später habe ich erfahren, dass das meiste Erz, welches im Ruhrgebiet „verhüttet‟ (es heißt wirklich so!) wurde, gar nicht mehr als Schweden kam, aber das ist eine andere Geschichte. Der Name Kiruna ist in meinem Kopf hängen geblieben. Und jetzt bin ich da. Am Busbahnhof.
Wo ist das Zentrum? Gleich um die Ecke? Hier in der Nähe gibt es ein modernes Rathaus mit einem eisernen Turm, dahinter eine hohe, dunkle Abraumhalde. Die Fußgängerzone ist kurz, endet an einem kleinen Platz und es gibt nur wenige Geschäfte. An dem Platz ist eine Bühne aufgebaut und es stehen Kinder-Karussels. Ich folge der Straße, gelange in Wohngebiete – Sechziger-Siebziger-Jahre-Wohnblocks, dazwischen alte Holzhäuser. Auf einer Anhöhe liegt eine Schule, von dort aus hat man einen schönen Blick über die Stadt. Am Stadtrand ist eine begrünte Abraum-Halde mit einer Ski-Abfahrt.
Auf der anderen Seite des Zentrums ist inmitten eines kleinen Birkenwäldchens die berühmte große Holzkirche: von außen sauber und modern, von innen schön hell und luftig… der Turm steht etwas abseits. Ein freundlicher Kirchen-Mitarbeiter beantwortet Fragen: in wenigen Jahren wird diese Stadt umziehen. Die gesamte Stadt wird abgerissen und ein paar Kilometer weiter neu gebaut. Diese Kirche ist das einzige Gebäude, was bleiben darf, sie wird demontiert und an neuer Stelle wieder zusammengesetzt.
Ich gehe in die Stadt zurück und finde ein gemütliches Café, wo ich den Rest meiner Wartezeit verbringen kann. Um drei Uhr bin ich wieder am Busbahnhof, von wo aus mich der Shuttle-Bus nach draußen zum neuen Bahnhof bringt.

Von Kiruna nach Stockholm: Noch eine lange, lange Bahnfahrt

Pünktlich um vier fährt der Zug in Kiruna los, fährt durch endlose Kiefernwälder unter einem blauweißem Himmel mit freundlicher Polarsommersonne. Ist das jetzt Abend, Mittag oder Nachmittag? Irgendwann, irgendwo überquere ich wohl den Polarkreis wieder in umgekehrte Richtung, dann verziehe ich mich auf einen Kaffee in den gemütlich-plüschigen Speisewagen und schaue mir all die fünfhundert Bilder an, die ich in Norwegen gemacht habe.
Gegen halb acht sind wir in Boden, da musste ich bei der Hinfahrt umsteigen, jetzt wird rangiert. Ein paar Wagons nach Lulea werden abgekoppelt und neue Wagons nach Stuttgart werden angekoppelt. Draußen strahlende Sonne und ein paar Wölkchen… auch um zehn Uhr abends strahlt die Sonne noch, dabei sind wir doch schon deutlich südlich vom Polarkreis, wird es denn auch hier nicht dunkel?
Mit mir im Abteil sind ein Syrer – vielleicht mein Alter – der kein Wort englisch spricht und eine komplett schwarz gekleidete Bosnierin mit Kopftuch, die zwar fließend bosnisch, serbisch, türkisch, albanisch und arabisch spricht – ihr Vater war Syrer – aber ebenfalls so gut wie kein Wort deutsch oder englisch. Wir kommunizieren also mit Händen und Füßen.
In Umea hält der Zug fast einehalbe Stunde lang. Gelegenheit um auszusteigen und ein wenig auf dem Bahnsteig auf und ab zu gehen. Meine beiden Abteilgenossen rauchen eine Zigarette. Es ist ein bisschen abenddämmerig, aber immer noch nicht dunkel.
Kurz vor Mitternacht geht es weiter. Draußen wird es mit jeder Minute wieder heller, und die beiden unterhalten sich noch lange auf arabisch während ich versuche, zu schlafen.
In Uppsala stehe ich auf. Es ist inzwischen halb neun. Draußen blauer Himmel und strahlend schönstes Sommerwetter. Ab in den Speisewagen und einen Kaffee zum wach werden.

Angekommen in Stockholm

Was ist Stockholm? Erste Eindrücke: Ein großer, belebter Bahnhof, sauber, ordentlich, alles funktioniert.
Ankunft aus dem hohen Norden, morgens um halb zehn: Die Sonne scheint. Eine breite Straße, großzügige Gebäude, Cafes…. das könnte auch Italien sein, oder? Erst später wird mir bewusst: der Verkehr ist angenehm ruhig – für Großstadtverhältnisse – weniger Lärm und Gestank. Die Café- und Hamburger-Ketten sehen aus wie überall. In einer einheimischen Burger-Kette bestellt man an Terminals auf einem Touchscreen und bezahlt ausschließlich mit Karte.
Auch das Einchecken im Hotel geht vollautomatisch – und funktioniert natürlich nicht, aber es gibt freundliche Menschen, die helfen. Alle sind sie hilfsbereit, von der Kellnerin die mir Kaffee anbietet (obwohl es gar keinen gibt) bis zu dem Menschen an der Hotline.
Für die U-Bahn benötigt man eine Chip-Karte oder man lässt sich das Ticket per SMS aufs Handy schicken. Ich erwerbe eine solche Karte für 20 Kronen, lasse mir ein 24-Stunden-Ticket darauf buchen und jetzt bin ich mobil.
Die U-Bahn Station sieht unten aus wie eine Grotte mit bunt bemalten Felswände. Ich nehme die nächste Bahn, fahre eine Station, trete ins Freie, und… Wow!
Prächtige Gebäude, Grünanlagen mit blühenden Blumen, blauer Himmel, überall Wasser, Brücken und Boote und alles ist wunderbar bunt. Da ist das Parlament, die Oper, das Theater und immer wieder Wasser.
Ein bisschen wie Hamburg, nur größer und prächtiger.

Stockholm, Gamla Stan

Ich biege ab in die Gamla Stan, die Altstadt.
Kopfsteinpflastergassen und alte Häuser. Das gibt’s auch in Deutschland, aber… Moment! Dies ist kein verschnarchtes Dinkelsbühl, ich befinde mich in einer Großstadt, einer Hauptstadt, einer Metropole, die im in einer Großstadt, die im Krieg nicht bombardiert wurde. Hier gibt es enge Gassen, Kirchen, Cafes, Kneipen, Läden, Restaurants, Touristen, und jede Menge Fotogelegenheiten, mit Weitwinkel und hochkant.

Ausflug nach Nynäshamn

Die Sonne scheint, ich will raus aus der Stadt und nehme die U-Bahn zu einer Endstation die Irgendwas-Strand heißt, aber das ist nur ein langweiliges Neubauviertel mit Hochhäusern, einer Imbissbude und einem Zeitungskiosk. Wo bin ich hier? Wo ist der Strand? Man kann in eine Art S-Bahn umsteigen, deren Endstation hört mit -hamn auf und auf dem Linienplan ist das Symbol für eine Fähre, also muss da wohl Wasser sein.
Eine Bahn kommt – ich darf sie mit meiner 24-Stunden-Chipkarte nutzen – und die Fahrt dauert ziemlich lange. Kurz vor der Endstation kommt ein Schaffner mit einem elektronischen Chipkartenlesegerät.
Ankunft in Nynäshamn: Es gibt Wasser und eine Uferpromenade mit netten Lokalen. Im Wasser viele, viele Segelboote und irgendwo weiter hinten ragt ein riesengroßes Fährschiff hervor, das fährt wohl nach Gotland. Der Blick aufs offene Meer ist durch eine langgezogene Insel versperrt.
Ich gehe am Ufer entlang, nach Süden, Stadtauswärts und gelange über eine Brücke auf eine andere vorgelagerte Inseln mit Villen und exklusiven Hotels – aber der Weg ist eine Sackgasse. Also wieder zurück aufs Festland, wo es einen schönen, asphaltierten Uferweg gibt. Figurbewusste Joggerinnen kommen mir entgegen. Ich gehe weiter und bald schaut man auf offenes Wasser, am Ufer Holzhäuschen und rundgeschliffene Felsen, wie man sie in Schweden nicht anders erwartet…

Stockholm… zusammenfassende Eindrücke

So, über Stockholm dämmert die Nach-Mittsommernacht. Dämmert noch oder dämmert schon? Ich sitze am geöffneten Fenster im fünften Stock, vor mir ein großes Wohnhaus mit Türmchen und einer Dachkonstruktion, auf der ich mir sehr gut das Häuschen von Kalle Blomquist vorstellen könnte. Unten steht knutschend ein Paar. Autos fahren vorbei, ab und zu auch ein Bus, der 53er, in Richtung Sergels torg. Ab und zu hört man auch das Quietschen von Zügen im nahen Hauptbahnhof.
Ich bin noch einmal durch die Stadt gegangen, einmal die Drottninggatan lang bis über die Brücke und dann ein wenig durch die Gamla Stan: deutsche Kirche und Stortorget, dann langsam wieder zurück. Kneipen mit Türstehern, aufgebrezelte Jugendliche – nicht so besoffen und nicht so aufdringlich rüde wie in England -, eigentlich viel ruhiger und gesitteter als in England und vor allem viel, viel ruhiger als in Deutschland. Aus einigen Lokalen hört man Musik.
Bin dann wieder zurück zum Hotel…. und muss ja in vier Stunden schon wieder raus. Trinke jetzt also noch mein Post-Mitternachtssonnen-Bier, Koffer ist fertig gepackt, Wecker gestellt und ich bin gespannt auf die Rückreise nach Deutschland.
Eigentlich war Stockholm ja nur so ein Zwischenstop, es lag halt zufällig auf dem Weg…. eine Stadt, über die ich bis vorgestern annähernd gar nichts wusste, abgesehen von den üblichen Vorurteilen: Kötbullar, Kalle Blomquist und Ikea.
Was weiß ich jetzt? Man zieht ja gerne Vergleiche. Mein erster Vergleich war: Hamburg. Also viel Wasser und viele großartigen Gebäude. Hamburg hat einen größeren Hafen, mehr (sichtbare) Industrie, weniger Hügel und liegt nicht ganz so dicht am Wasser. Außerdem hat es keine gut erhaltene Altstadt. Mein zweiter Vergleich war dann: Wien. Warum Wien? Es liegt ebenfalls am Wasser und es hat einen „Schwedenplatz“, das ist der Platz, wo das Nachtleben tobt und von wo aus man über Kopfsteingepflasterten Gassen in die Altstadt gelangt – wie in die Gamla Stan. Außerdem hat Wien eine lange monarchistische Tradition mit entsprechenden Gebäuden. Ach ja, und einen Prater gibt es in Stockholm auch, der nennt sich Gröna Lund. Aber da hören die Gemeinsamkeiten dann auch schon auf. Ja. Dann gibt es hier noch einen Prachtboulevard am Ufer und ganz viele Schiffe und Boote. Da wäre dann ein Vergleich mit Kopenhagen angesagt – aber das habe ich ja auch erst vor einer Woche kennen gelernt…..

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