Zug in der Bukowina

Von Gura Humorolui nach Arad

Heute beginnt meine Rückreise. Draußen hängen tiefe Wolken, es sieht nach Regen aus. Noch einmal schaue ich durch die geöffnete Balkontür über die Berge hinter der Stadt, über das Tal, das sich nach Westen hinzieht. Ich habe meine Sachen gepackt für die lange Reise in einem rumänischen Nachtzug, quer durch das Land, im Norden, von Ost nach West, und dann über die Grenze nach Ungarn und weiter nach Hause. Aber zuvor habe ich noch ein paar Stunden hier in dieser rumänischen Kleinstadt.
Autos brettern durch den Kreisverkehr, Menschen schlurfen über die Bürgersteige, die meisten ohne Jacke, einige sogar in Shorts. So kühl ist es also gar nicht.
Die Rezeptionistin fragt mich, ob ich es tatsächlich geschafft habe, gestern beide Klöster zu besuchen, und das ganz ohne Taxi.
Ich gehe nochmal zur modernen Kathedrale, spaziere durch Naherholungsgebiet, überquere die Moldau auf der Hängebrücke und versuche der Ursache der lauten Musikbeschallung mitten im Wald auf den Grund zu gehen. Im Wald treffe ich ein paar Pilzsucher, in dem Naherholungsgebiet gibt es ein Riesenrad, ein Schwimmbad und ein Karussell. Außerdem Abenteuerspielplätze, einen Kletterturm und diverse Buden und Lokale. Es ist kaum etwas los.
Auf dem riesigen Parkplatz befindet sich auch eine Bushaltestelle und just in diesem Augenblick kommen zwei Busse um die Ecke: Die Nr. 2 fährt nach Voronet und hält direkt vor dem Kloster. Was hält mich davon ab, nochmal hinzufahren, zumal es gerade wieder anfängt zu regnen? Das Ticket kann man direkt beim Fahrer für 2 Lei erwerben, und dann geht es erstmal auf einer komplexen Runde kreuz und quer durch die Stadt, dann erst in Richtung Voronet.
Vor der Gasse mit den Souvenirbuden steige ich aus. Der junge Mann im Kloster-Laden wundert sich ein wenig, mich heute schon wieder zu sehen. Der Wächter an der Mauer will mein Ticket gar nicht sehen. Heute im Nieselregen ist deutlich weniger los als gestern. Zeitweise habe ich die wunderschöne Kirche ganz für mich allein und kann mir alles nochmal in Ruhe anschauen: das jüngste Gericht, die Ahnen Jesu und die Heiligen und Engel.
In der Budengasse erwerbe ich noch ein paar Andenken und just als ich wieder an der Hauptstraße stehe, kommt ein Bus – ein Glück, denn ich hatte weder Haltestellenschild noch Fahrplan entdecken können.
Als ich in der Stadt bei der Post aussteige, hat der Regen wieder aufgehört.
Ich gehe ein Stück am Fluss Humor entlang und dann höre ich Musik, die kommt vom anderen Ufer her. Ziemlich laute Musik, eine Art schnelle, fröhliche Blasmusik: probt da eine Band oder hat da einfach jemand seine Anlage etwas laut aufgedreht? Dass man in Rumänien gerne laute Musik hört, habe ich ja schon mehrmals mitgekriegt.
Ich folge der Musik zu ihrer Quelle: in einem Vorgarten ist ein Zeltpavillon aufgebaut, darunter ein festlich gedeckter Tisch und ganz offenbar eine Hochzeitsfeier. Ein Taxi lädt weitere Gäste aus, Nachbarn schauen von der anderen Straßenseite aus zu.
Ich gehe weiter in die Innenstadt und finde ein „Autoservire“, eine Art Cafeteria oder Kantine, da gibt es solide rumänische Hausmannskost, alkoholfreie Getränke und Kuchen. Man nimmt sich ein Tablett und bedient sich am Tresen. Der Laden ist blitzsauber und schnörkellos: große, braune Tische und solide Holzstühle.
Im Supermarkt nebenan hole ich mir noch etwas Reiseproviant und dann bleibt noch Zeit genug für einen Kaffee im Bäckereicafé nebenan.
Am Nebentisch sitzen zwei ältere Männer mit drei Kindern. Die Männer trinken Bier aus Flaschen, die Kinder haben Limonade und Kuchen. Die Männer unterhalten sich lebhaft, die Kinder wirken eher gelangweilt, ein Mädchen spielt mit ihrem Handy. Dann stehen sie auf und gehen; die Bedienung räumt ihren Tisch ab.
Es ist bewölkt, aber warm, nach Süden hin sind die Wolken sogar ziemlich dunkel. In einer guten Stunde geht mein Zug.
Anfangs hatte ich fast Angst davor, die Zeit nicht herumzukriegen, jetzt finde ich es zunehmend immer spannender, diese Kleinstadt zu erforschen. Ich hole mein Gepäck und rolle den Koffer die Straße entlang zum Bahnhof. Es ist ein friedlicher, frischer Abend, nicht kalt, nicht warm.
Neben mir wartet noch ein älteres Paar, er scrollt auf seinem Handy bei laut geschaltetem Ton durch irgendwelche Videos. Eine sehr junge Frau wird von ihrer Mutter gebracht. Ein älterer Mann mit Trainingsjacke raucht. Insgesamt sind es vielleicht ein halbes Dutzend Leute.
Der Fahrplan passt auf eine Seite und umfasst im Wesentlichen eine handvoll Fernverkehrsverbindungen, so dass man an die wichtigsten größeren Orte des Landes genau ein bis zweimal am Tag ohne umzusteigen hinkommt.
Um kurz vor halb sieben ertönt die mir inzwischen sehr wohl bekannte melodische Lautsprecherfanfare und eine lange automatische Ansage, von der ich kein Wort verstehe. Aber da die anderen Reisenden aufstehen, die Gleise überqueren und sich entlang des Mittelbahnsteigs postieren, nehme ich an, dass der Zug im Anmarsch ist. Das ist er auch: von weitem her kündigt er sich erst hupend und trötend, dann rumpelnd an, dann erscheint die rote Elektrolokomotive, gefolgt von einer handvoll weiß-violetter Wagons.
Drinnen ist es dämpfig, schwül und stickig, so wie in den meisten Zügen, die ich bisher kennen gelernt habe. Ich suche den Schaffner, finde ihn und frage nach einem Schlafwagenplatz. Sein Englisch ist gut genug, er geht mit mir nach vorn – der Schlafwagen ist abgeschlossen, der Schaffner-Kollege muss erst herbeigerufen werden, aber dann schüttelt er den Kopf: leider alles voll.
Also gut, so schlimm wird’s schon nicht werden! Mein reservierter Platz ist besetzt, aber das ist auch egal, ich suche mir einen anderen in einem geschlossenen Abteil, wo nur noch ein einzelner älterer Mann sitzt. Er hat die Schuhe ausgezogen, sein Handy an der Steckdose angestöpselt und schaut Videos. In voller Lautstärke.
Er wirkt nicht gerade begeistert, dass ich in seinen Bereich eindringe, aber so ist das halt. Dieser Zug ist ja schon ein paar Stunden unterwegs, er kommt von Iasi, und hier hat längst jeder seinen Claim abgesteckt: der Eine liegt quer auf einer Zweier- oder Dreierbank, der Andere hat seine Füße hochgelegt, alle Fenster – und Steckdosenplätze sind belegt. Ich muss vorliebnehmen mit dem, was übriggeblieben ist, und dieser Platz ist gar nicht mal so schlecht, es gibt genügend Platz für meinen Koffer und ich nehme auf der Gang-Seite neben der Tür in Fahrtrichtung Platz.
Ganz gemächlich zucket der Zug durch eine sehr, sehr grüne Mittelgebirgslandschaft mit viel Wald, dazwischen Dörfer mit schönen hölzernen Kirchen in diesem Bukowina-Stil, Gärten, Lattenzäune und grüne Wiesen. Die Lastwagen auf der parallel verlaufenden Landstraße überholen uns locker. Das Wetter ist dunstig-neblig-wolkig, zwischendurch regnet es auch mal.
Der Zug hält an einem winzigen Bahnhof im Nirgendwo, ein Gegenzug braust vorbei, der Stationsvorsteher eilt aus seinem im Gebüsch versteckten Quartier einen Hang hinunter, korrekt gekleidet in dunkelblauer Hose, hellblauem Hemd, und Mütze, in der linken Hand das Funkgerät, in der rechten Hand die Kelle.
Es geht durch enge Täler, dann einen Tunnel, das Tal wird wieder breiter, das Wasser fließt in die andere Richtung, nächster Halt Vatra Dornai, ein wohl recht schicker Kurort. Das Bahnhofsgebäude wirkt frisch renoviert, ein paar Leute steigen ein.
Mein Abteil-Genosse erklärt mir irgendwas auf rumänisch, ich schaue ihn hilflos an, er redet weiter, trinkt Bier aus einer 2-Liter-Plastikflasche und schaut wieder Videos.
Draußen wird es allmählich dunkel. Ich hole die Bierdose, die ich mir für den Abend besorgt habe, aus meinem Rucksack, mache sie auf und trinke in kleinen Schlucken.
Noch kann man draußen die Landschaft erkennen, links und rechts dichter Wald, dann Blick in ein weites Tal, menschenleere Landschaft, wie es scheint, dann kommt ein langgestreckter Ort in einem sanften Tal, Lichter in den Häusern, dann ein Halt. Niemand steigt aus, niemand steigt ein. Mir fällt auf, dass die Türen nicht richtig schließen, im Prinzip kann man sie auch während der Fahrt öffnen. Die Fenster hingegen nicht.
Alle Handys im Zug tröten: wieder mal eine dieser Warnmeldungen, jetzt geht es um Unwetter und Flut. Beim nächsten Halt ist es draußen recht kühl und nieselig. Auf der Toilette gibt es kein Licht, die Toilettenbenutzung im Stockdunklen ist ein Abenteuer, welches man besser vermeiden sollte.
Beim nächsten Halt öffne ich die Tür und schaue nach draußen. Auf dem Bahnsteig ist kein Mensch zu sehen. Nur ein Fenster im Bahnhofsgebäude ist beleuchtet, wohl das Büro des Stationschefs, der kommt dann auch heraus und gibt das Abfahrtsignal. Es geht weiter, schemenhaft kann man noch die bewaldeten Bergrücken erkennen. Das Handy hat keinen Empfang mehr, ich schalte es aus.
Ich setze meine Schlafbrille auf und döse ein. Das rhythmische Klackern des Zuges wirkt beruhigend. Ich achte auf die Geräusche: das Klackern ändert sich, mal ist es schneller, mal ganz langsam, mal pfeift die Lokomotive, mal hört man Stimmen, mal das Handy meines Mitreisenden.
Dann ein Halt: Stimmen, Lautsprecheransagen, die bekannte Lautsprecher-Fanfare, Türenknallen. Ich stelle mir vor, wie der Bahnhof aussehen mag, stelle mir vor, wie die Strecke aussehen mag… und wieder ein Bahnhof, diesmal muss es ein ziemlich Großer sein, Stimmengewirr und Türenknallen, wir stehen ziemlich lange. Ist das Beclean? Oder schon Cluj-Napoca? Es geht weiter.
Dann reißt der Schaffner die Abteiltür auf: Personalwechsel, Fahrscheinkontrolle!
Ich nestele mein Ticket hervor, schlafe wieder ein, döse vor mich hin und bin plötzlich wieder wach: Hat da jemand gesprochen? Fetzen von Musik, Gelächter… nein, es ist nur mein Abteilgenosse, der kann wohl nicht schlafen und schaut wieder Videos, mitten in der Nacht, in voller Lautstärke. Warum hat der keine Kopfhörer? Eine Sekunde lang sinne ich auf Rache: schließlich habe ich auch ein Handy dabei und dabei genug Musik, die man ganz schön laut aufdrehen kann, aber ich lasse es. Das Rattern des Zuges wiegt mich wieder in den Schlaf und irgendwann hört auch das Geplärre auf. Der Zug hat die Richtung gewechselt, von irgendwoher weht ein kühler Luftzug, ich ziehe meine Jacke an, der Zug rattert weiter, mal schneller, mal langsamer, mal quietschen Bremsen, mal höre ich draußen Stimmen, mal schlagen Türen, dann wieder rattern, rattern, rattern… ich bilde mir ein, wach zu sein, muss aber irgendwann ziemlich tief eingeschlafen sein.

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