In der Halle des Stralsunder Hauptbahnhofes befindet sich eine alte Wandmalerei, welche die Ostseeküste und die Insel Rügen darstellt. Ansonsten wird das altehrwürdige Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert gerade renoviert und umgebaut. Ich mache mich auf den Weg, die Stadt zu entdecken und überquere einen Wasserlauf. Fluss, Stadtgraben oder Meeresarm – keine Ahnung, worum es sich handelt. Kurz dahinter fängt die Altstadt an. Ein Trupp von betrunkenen Jugendlichen rennt die Kopfsteinpflastergasse entlang zum Neuen Markt mit der backstein-gotischen Marienkirche. Ich biege um ein paar Ecken, über noch mehr Kopfsteinpflaster, vorbei an Backsteinfassaden, die mal wunderschön, mal gammelig-verfallen sind. Hier und da gibt’s Cafés mit Tischen und Stühlen draußen, da sitzen schick gekleidete Leute mittleren Alters und trinken Wein. Gruppen von betrunkenen männlichen Jugendlichen ziehen vorbei. Der Abend dämmert herauf und der Himmel ist nur noch ein ganz kleines bisschen blau, die wunderschöne Fassade des alten Rathauses mit den gotischen Backstein-Türmchen und Arkaden ist angestrahlt. Durch die Arkaden gelangt man in einen wunderschönen Innenhof mit weißen Säulen.
Ein schwer betrunkener junger Mann rennt da durch und gröhlt etwas vom Hohen Norden und der blonden arischen Rasse – irgendeinen rassistischen Mist.
Nebenan ist die alte Nicolaikirche mit den charakteristischen zwei völlig unterschiedlich aussehenden Türmen und drum herum noch weitere schöne Häuser, zum Teil noch unrenoviert und dem Verfall preisgegeben. Ich treffe den Nazi wieder, der jetzt etwas von „Fidschi, gute Reise, ab nach Saigon!“ gröhlt, seine Kumpels versuchen jetzt, ihn zu beschwichtigen.
Um die Ecke ist ein Waffengeschäft, im Schaufenster liegen monströse Messer und Schwerter. Drei männliche Jugendliche bestaunen die Auslage. Ich habe ja schon erkannt, daß die Jungs hier überwiegend ganz kurze Haare tragen und ja, ich bin tolerant, das braucht noch lange nichts zu heißen, aber wenn sie sich für Waffen interessieren, dann will ich doch lieber zusehen, dass ich Land gewinne. Ich gehe zurück zum Bahnhof, hole mein Gepäck aus dem Schließfach und steige in den nächstbesten Zug.
In Greifswald steige ich aus. Es ist ein wunderschöner, milder Frühlingsabend.
Am Bahnsteig warten noch ein paar Leute, aber heute geht nur noch ein einziger Zug nach Stralsund zurück, sonst nichts mehr. Nur mein Zug nach Schweden, um 01:43 Uhr in der Nacht.
Bis dahin muss ich noch fast drei Stunden herumkriegen.
Die Bahnhofshalle ist abgeschlossen. Auf dem Vorplatz warten ein paar Taxen, die einzige Kebab-Bude macht gerade zu. Wo gehts hier zur Innenstadt?
Immer dem Licht nach! Ein paar Gebäude sind angestrahlt. Kirchen? Gibt’s hier nicht auch eine Uni? Dann muss es hier doch auch Studentenkneipen geben! An einer Bushaltestelle finde ich einen Plan, auf dem ich mich orientieren kann.
Zwei besoffene Jungs wanken durch die Fußgängerzone ihrer Wohnung entgegen. Vor einer Kneipe sitzen Leute, aber die sind auch schon ziemlich besoffen. Am Marktplatz entdecke ich eine etwas gediegener aussehende Kneipe mit blankgeputzten Kupferkesseln, die sieht nicht ganz so prollig aus. Das Bier ist teuer, aber ich kriege immerhin sogar noch etwas zu essen.
Greifswald, nachts um halb eins.
Gegen halb eins macht die Kneipe zu. Ich trinke in aller Ruhe mein Bier aus und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Sightseeing im Dunkel, darin habe ich inzwischen fast ein bisschen Routine:
Der Marktplatz, die Fußgängerzone, der Dom. Ich kann mir ja jetzt Zeit lassen. Irgendwo hier in der Nähe muss auch die Uni sein. In einem kleinen Park duftet es nach Lindenblüten, am Ufer eines Teiches steht eine Bank, aber die Bank ist nass, also gehe ich weiter.
Ich erreiche den Bahnhof, es ist ja gar nicht so schwer, sich hier zurecht zu finden. Aber was, um Himmels Willen macht diese Horde Jugendlicher da auf den Treppen vor dem Bahnhof? Nein, sie sind nicht besoffen. Viel schlimmer! Es gehört nicht viel dazu, eins und eins zusammen zu zählen: die wollen auch nach Schweden, mit dem selben Zug wie ich.
Ich setze mich am Bahnsteig auf eine Bank. Der Süßigkeitenautomat hat auch Kondome, ist aber kaputt. Ich studieren den Fahrplan: Gleis zwei ist vorübergehend außer Betrieb, von den anderen Gleisen aus geht es entweder nach Stralsund oder nach Pasewalk und hin und wieder auch nach Lubmin, der letzte Zug dorthin fährt um fünf Uhr nachmittags. Lauter Informationen, die die Welt nicht braucht.
Die Jugendlichen kommen rüber in meine Richtung, ein paar Kids tauschen Zigaretten aus, Pärchen halten sich eng umschlungen. Die Mädels tragen Turnschuhe und hennarotes Haar. Es gibt Walkmänner und Gitarren, aber ich entdecke weder Bierkästen noch Schnapsflaschen.
Der Zug kommt, die vorderen Waggons gehen nur bis Saßnitz. Die Jugendlichen haben reserviert. Gibts noch freie Plätze, frage ich den Schaffner. Ja, vereizelt, sagt der. Aber dann ist es doch bloß halb so wild, ich finde ein Abteil, in dem nur ein anderer Typ sitzt, setze mich und bin routiniert ziemlich bald eingeschlafen, die beiden Stops Stralsund und Bergen auf Rügen kriege ich nur im Halbschlaf mit.
Dann werde ich wach, weil es plötzlich still ist.
„Wo sind wir?“, fragt einer der Jugendlichen aus dem Nachbarabteil.
„In Sassnitz-Mukran auf Rügen!“, antwortet ein Anderer, der Bescheid weiss.
Ich öffne die Augen und schaue hinaus. Da ist ein Bahnsteig ohne Schild. Hafenanlagen.
Der Typ aus meinem Abteil schaut aus dem Fenster.
„Hey, die schieben unseren Zug auf die Fähre!“, staunt er ungläubig. Da ist schon ein ganzer Güterzug auf dem Schiff. Der Typ kramt einen Fotoapparat aus seiner abgewetzten Sporttasche. Sonst hat er nur noch eine Plastiktüte dabei. Damit will er nach Norwegen.
„Um dreiundzwanzig Uhr habe ich mich entschieden, loszufahren!“, erzählt er, „und um dreiundzwanzig Uhr sechzehn ging der Zug.“
Was genau hat er vor?
„Na, ich muss doch zum Endspiel!“, strahlt er. Okay, jetzt mal von vorn. Es geht um Eishockey. Da läuft wohl gerade die Weltmeisterschaft. Finnland ist im Finale. Na und?
„Na, ich bin halt absoluter Fan!“
Okay, warum auch nicht.
„Hast du denn eine Karte gekriegt?“, frage ich.
Er schüttelt den Kopf.
„Werd schon noch eine kriegen,“ sagt er, „Die brauchen mich doch. Die wollen schließlich was von mir!“
Ich schaue ihn ungläubig an.
„Spielst du etwa mit?“, rutscht es mir heraus.
Er lächelt nachsichtig.
„Nee, bin halt absoluter Fan!“, wiederholt er, „und da muss ich doch ordentlich Krach machen.“
Er fischt eine Gashupe aus der Plastiktüte.
Dann mustert er die Jugendgruppe, die weiter vorne auf dem Gang herumturnen.
„Sieht nicht schlecht aus, die Blonde da drüben!“, stellt er fest.
Hey, die ist doch maximal Sechzehn, sage ich.
Er wird ein bisschen rot.
„Ich steh halt total auf Blonde.“, nuschelt er.
Er war noch nie in Skandinavien. Er ist noch nie mit einem Schiff gefahren. Er ist im Osten aufgewachsen, da war hier oben an der Ostseeküste immer Ende. Weiter zu reisen, das blieb ein unerfüllbarer Traum.
Unser Wagon wird auf das Schiff geschoben.
„Na, dann hoffen wir mal, dass der Kahn nicht absäuft!“, murmelt der Eishockeyfan, als wir endlich aussteigen und nach oben aufs Deck klettern dürfen.
Routiniert checke ich alles ab: Restaurant, Duty-Free-Shop, Sitzgruppen und Bänke, alles da, was auf so einen Dampfer gehört, aber im Gegensatz zu den England-Fähren ist hier alles ein bisschen schlichter und grauer. Aber trotzdem sauber und ordentlich, also gut, ich suche mir eine graue Kunstleder-Sitzgarnitur, lasse mich routiniert nieder und schlafe ein. Als ich aufwache, ist es längst schon hell, und draußen ist kein Land zu sehen, aber es ist auch ziemlich diesig. Kurz vor sieben Uhr früh kommt die Ansage, dass wir bald ankommen werden. Jetzt sind sind draußen auch endlich Hafenanlagen und Häuser zu sehen. Ein nebliger Morgen.
Der Eishockeyfan geht zurück in den Zug, ich gehe zu Fuß an Land. Der Zoll-Angestellte im Terminal winkt mich rasch durch, und dann stehe ich auf schwedischem Boden.
Ein neues, unbekanntes Land. Eine neue, unbekannte Sprache. Eine neue, unbekannte Währung.
Der Zug wird von einer Rangierlok aus dem Schiff und an einen Bahnsteig gezogen.
Ansonsten sieht hier alles völlig unspektakulär aus, es ist kühl und der Himmel ist bedeckt.
In der Stadt gibt es einen kleinen Park und kurze Fußgängerzone, daran auch ein paar Cafés, aber die sind noch alle geschlossen. Sogar der Frittenbräter hat noch zu. Aber eine offene Wechselstube entdecke ich, tausche 20 britische Pfund und bekomme dafür knapp 250 schwedische Kronen.
Viel los ist hier nicht.
Ein paar Ecken weiter finde ich den zentralen Busbahnhof und da gibt’s einen Zug nach Malmö.
Kurzentschlossen steige ich ein. Im nächsten Moment taucht eine Horde Deutsche auf, sie alle haben mikrochipbewehrte Karten in der Hand und im Nu bildet sich eine lange Schlange, der Bus wird gerammelt voll, ein paar Leute müssen stehen. Zum Glück sitze ich schon.
Die einfache Fahrt kostet 40 Kronen, da sind also ungefähr 10 DM oder Dreieinhalb britische Pfund. Eine halbe Stunde lang geht es durch Landschaft, die nicht viel anders aussieht als in Norddeutschland, dann über eine Autobahn, durch Vororte und schließlich zum Bahnhof von Malmö.