Ich bin angekommen. Auf Usedom. In einem Dorf am Ende der Welt, hinter den Dünen, direkt am Meer. Das Hotel wirkt fast wie eine Klinik, mit breiten Fluren und alles barrierefrei, die meisten Gäste sind im Rentenalter und viele auf den Rollstuhl angewiesen.
Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht habe, ziehe ich die Wanderschuhe an und gehe ans Meer.
Ich wandere am Strand entlang, dann das Steilufer hinauf durch den Wald, vorbei an einer Ausflugsgaststätte, die aber geschlossen ist. Landeinwärts liegt ein Binnensee, ich gehe ein Stück am Ufer entlang und dann wieder durch den Wald und finde schließlich inmitten von kitschig bunten Ferienhütten ein geöffnetes Café.
Man kann auch draußen auf der Terrasse sitzen, aber das wagt nur ein jüngeres Paar, obwohl es eigentlich gar nicht so richtig kalt ist. Drinnen ist das Lokal voll: eher ältere Semester. Ein Paar ist im Aufbruch begriffen, die Frau grinst mich an: „Sie haben Glück, junger Mann, wir sind gleich weg, dann können Sie sich hersetzen, das ist der beste Platz im ganzen Lokal!“
Sie hat Recht. Von dem Fensterplatz aus hat man alles im Blick. Bei Kaffee und Kuchen lese ich die örtliche Sage von Klaus Störtebecker, der seine Schätze in einem Waldsee hier in der Nähe versenkt haben soll.
Jetzt muss ich eine Gewissensentscheidung treffen? Rückkehr oder weiter geradeaus? Weiter geradeaus kommt acht Kilometer lang nichts. Ich gehe zügig los, zwischen Strand und Steilufer, Wald und Abbruchkante. Irgendwann überholt mich eine junge Frau, ich bleibe ihr auf den Fersen, aber irgendwann ist sie einfach schneller.
Ich erreiche den Ort Bansin: hier gibt es eine Seebrücke, elegante Hotels, Kitsch- und Kramläden und jede Menge Cafés. Beim Bäcker hole ich mir ein paar Brötchen und im Supermarkt am Bahnhof dann noch zwei Flaschen Bier und Käse. Als ich dann auf der Bank am Bahnhof mein Käsebrötchen mampfe und mit Bier hinunterspüle muss ich auf die anderen Wartenden aussehen wie der letzte Alkoholiker, aber das ist mir auch egal.
Der Zug kommt, die selbe Schaffnerin wie heute früh verkauft mir ein Ticket, drei Euro zurück bis Koserow, Bahncard-Ermäßigung gilt hier nicht, dann unterhält sie sich mit ihrer Kollegin, eine von den beiden will sich wohl ein Auto kaufen, das war schon heute früh in der Bahn das Thema gewesen.
Gegen halb acht bin ich wieder im Hotel und falle völlig übermüdet ins Bett und nehme mir für morgen vor, die polnische Grenze zu überqueren.
Nach mehr als zwölf Stunden Schlaf erhebe ich mich dann langsam wieder aus den Federn, begebe mich gemächlich zum Frühstücksbuffet und als ich endlich aufbreche, ist der Zug gerade weg. Ich habe keine Lust darauf, eine Stunde zu warten, also gehe ich zu Fuß an der Steilküste entlang oberhalb des Strandes durch lichten Buchenwald. Das Meer sieht man nur hin und wieder, aber das Rauschen der Wellen ist gut zu hören.
In Bansin stöbere ich in einer Buchhandlung, hole mir etwas zu essen und mache eine Art Picknick am Strand. Weiter geht’s über die Strandpromenade, an schönen, viel gepriesenen Villen vorbei bis Heringsdorf, eines der legendären drei Kaiserbäder. Nein, das hier ist nicht Monte Carlo auch wenn es in Heringsdorf ein Casino gibt. Die Villen sind schick renoviert, es gibt auch Neubauten und geplante Neubauten, die letzten Baulücken an der Strandpromenade werden wohl bald geschlossen sein. Die Strandpromenade ist weitgehend Autofrei.
An der Seebrücke gönne ich mir einen Cappuccino. Ob man den Neubau als architektonisch gelungen bezeichnen darf ist Ansichtssache, aber egal: Die Sonne strahlt, der Himmel ist blau, Vögel zwitschern und es ist warm, wenn auch noch nicht warm genug um im Straßencafé ohne Jacke zu sitzen.
Ich gehe weiter, die Promenade entlang, vorbei an Villen und gelange nach Ahlbeck, dem östlichsten der drei Kaiserbäder. Von hier aus führt ein gut ausgebauter Spazierweg durch den Wald nach Osten zur polnischen Grenze.
An der Grenze selbst befinden sich ein Parkplatz, ein Markt und die „letzte deutsche Gaststätte vor Moskau“. Und die Endstation der Usedomer Bäderbahn. Die Schienen hören unmittelbar an der Grenze an einem Prellbock auf. Einfach nur ein Prellbock, sonst nichts.
Auf dem Markt gibt es neben Zigaretten, Souvenirkitsch und ramsch auch Landkarten von Deutschland in den Grenzen von 1937 zu kaufen.
Und dann ist da am Ende der Straße der Schlagbaum, daneben residiert die Bundespolizei in einem Container. Ein Aushang weist darauf hin, dass die Grenzkontrollen auch seit dem EU-Beitritt Polens bis auf Weiteres weiterhin stattfinden werden und ein Grenzübertritt sei nur an den offiziellen Grenzübergängen möglich. Und hier darf die Grenze nur von Fußgängern und Radfahrern überquert werden.
Ein deutscher und ein polnischer Beamter stehen direkt nebeneinander; beide werfen nur einen kurzen Blick auf meinen Ausweis und winken mich durch.
Abseits der Straße zieht sich ein sorgfältig geharkter Sandstreifen durch die Dünen, der polnische und der deutsche Grenzstein stehen einander gegenüber. Ich mache ein paar Fotos.
Auf polnischer Seite befindet sich ein Kreisverkehr mit einem kleinen Denkmal in der Mitte, von hier aus führt eine baumgesäumte Allee in die Innenstadt von Świnoujście, dem ehemaligen Swinemünde. Es gibt zwar immer noch das alte Kopfsteinpflaster, aber keine Pferdekutschen mehr, nur noch ein paar Taxis und eine Haltestelle, an der ein Bus wartet.
Auch sonst sieht es ganz anders aus, als ich es vor 7 Jahren in Erinnerung habe: Es gibt zwar noch den Markt, aber da ist inzwischen nicht mehr viel los. Ein Händler spricht mich an: „Zigarettchen?“, alles mit Banderole, verspricht er, alles legal, keine Schmuggelware mehr, wie damals. Wenn’s denn wahr ist. Auch Lederjacken, Jeans, alle Arten von Kleidung und Billigramsch gibt’s zu kaufen, aber das Angebot ist überschaubar. Am Straßenrand sitzt ein Bettler, in seiner Schale liegen nur Euro-Münzen, keine Zlotys. Das zwielichtig aussehende Hotel, welches mir damals aufgefallen ist, ist jetzt geschlossen und auch die meisten Marktbuden sind verwaist.
Langsam gehe ich in Richtung Innenstadt. Die Außenviertel von Świnoujście sind grau, vielleicht ein bisschen grauer als in den meisten deutschen Städten, aber auch nicht grauer als vielleicht irgendwo in Belgien oder Frankreich.
Die Innenstadt ist unspektakulär. An der Swine gibt es Kräne und Hafenanlagen und eine Fähre aufs andere Ufer, wo sich auch der neue Hauptbahnhof befindet. Durch einen Park gelange ich an die breite Strandpromenade, da ist ordentlich was los: Imbissstände, fliegende Händler, Straßenmusiker und viele flanierende Spaziergänger. Durchgänge und Bretterwege führen durch die Dünen ans Meer.
Ich setze mich auf meine Bank, esse ein mitgebrachtes Käsebrötchen und überhöre das Gespräch eines deutschen Rentnerpaars, in dem es ums Fotografieren und Kameraeinstellungen geht. Meine eigene Kamera hat soeben den Geist aufgegeben, warum auch immer.
Ich gehe weiter in Richtung Westen, zurück zur Grenze, und je mehr ich mich Dieser nähere, desto weniger Leute sind unterwegs.
Und dann kommt ein Zaun. Ein vielleicht zwei Meter hoher Maschendrahtzaun. Der führt von den Dünen über den Strand und endet im Meer. Mit hochgekrempelten Hosenbeinen käme man vielleicht daran vorbei ohne großartig nass zu werden, bei Ebbe vielleicht auch mit Gummistiefeln, denke ich mir, aber dann fällt mir ein, dass es hier an der Ostsee ja gar keine großartigen Gezeiten gibt, also müsste man vermutlich doch schwimmen. Wobei sich dieser Zaun ja im Prinzip auch überklettern ließe.
Zumindest in der Theorie. Denn ein paar Meter weiter in den Dünen parkt ein VW-Bus der deutschen Bundespolizei, gut sichtbar, damit niemand auf krumme Gedanken kommt.
Und das tu ich auch nicht.
Ich gehe bis an den Zaun ran, und dann landeinwärts, da geht ein Trampelpfad durch die Dünen, direkt wenige Meter vom Zaun entfernt. Ob der bis zum offiziellen Grenzübergang führt?
Parallel zum Zaun führt ein sorgfältig geharkter Streifen Sand, da fällt jede Fußspur sofort auf. Das ist wohl auch der Sinn der Sache.
Ein bisschen verwegen fühle ich mich schon, wie ein Schmuggler oder Schleuser, wobei ich mal fest davon überzeugt bin, dass man mich längst auf dem Schirm hat, auf beiden Seiten.
Nach wenigen Minuten erreiche ich den Parkplatz, an dem ich vorhin schon einmal war, da stehen ein paar Autos mit Ausflüglern, die sind ausgestiegen denn auf die andere Seite kommt man ja nur zu Fuß.
Der polnische Beamte winkt mich durch und der deutsche wirft nur einen kurzen Blick auf meinen Ausweis. Ich frage ihn, was denn wohl passieren würde, wenn jemand da einfach so über den Zaun klettern würde.
Die Polen kassieren 100 Zloty, sagt der Beamte, und die Deutschen dann nochmal 25 Euro, aber nächstes Jahr wird sich das erledigt haben, dann tritt Polen dem Schengen-Raum bei und dann kann man auch am Strand einfach so über die Grenze.
Aber noch steht der Zaun. Und der deutsche und der polnische Grenzstein stehen einander direkt gegenüber.
An der Bahnhaltestelle steht ein Zug bereit, aber ich gehe lieber noch einmal an den Strand, auf einem breiten Wanderweg, ein paar Meter vom Zaun entfernt, den sieht man hier nicht im dichten Baumbestand.
Und dann stehe ich wieder am Zaun, wenige Meter entfernt von dem Punkt, wo ich eine knappe Stunde zuvor gestanden habe. Bis direkt dran darf ich nicht, denn der Zaun steht schon auf polnischem Gebiet und dazwischen ist der von Grenzern regelmäßig sorgfältig geharkte Spurensicherungsstreifen, der sich zwischen zwei Zäunen die Dünen hinaufzieht.
Und jetzt sehe ich die Beamten in ihrem VW-Bus aus der Nähe: Zwei Leute vorn, ein jüngerer Typ mit Schnauzbart, daneben ein etwas älterer Kollege, das scheint der Chef zu sein, und auf der Rückbank sitzt noch ein kleiner schmächtiger Typ mit Vollbart. Sie bemerken mich, ich grüße sie, aber sie grüßen nicht zurück.
Ich gehe am Wagen vorbei ein Stück den betonierten Weg hoch. Da ist noch ein Schild „Achtung Bundesgrenze“ und ein anderes Schild, welches dazu auffordert, die Dünenlandschaft nur auf den markierten Wegen zu betreten, andernfalls riskiere man ein Bußgeld. Aber das weiß ich ja schon.
Ich mache keine Photos mehr, meine Kamera ist ja eh hinüber.
Draußen auf dem Mehr fährt ein großes Fährschiff aus Schweden kommend nach Świnoujście.
Ich wende mich nach Westen und gehe der untergehenden Sonne entgegen. Die Sonne verschwindet, der Himmel ist noch rot und im letzten Tageslicht stapfe ich in Richtung Ahlbeck, mache eine kurze Pause in einem verwaisten Strandkorb und gehe weiter.
Es riecht nach Meer, es rauscht wie ein Meer halt so rauscht und als ich die beleuchtete Seebrücke von Ahlbeck erreiche, ist es schon dunkel. Wie komme ich zum Bahnhof? Wann geht der nächste Zug? Erwische ich den noch oder nehme ich den Übernächsten? Dann kann ich auch noch ein Stück am Strand entlang bis Heringsdorf laufen.
Ich stapfe weiter, meine Beine werden schwerer und schwerer und einmal lasse ich mich in den weichen Sand fallen… die Wellen rauschen… das nächtliche Meer ist ganz nah… aber jetzt bloß wieder aufstehen und weitergehen! Endlich erreiche ich die Seebrücke von Heringsdorf, klettere hinauf und nehme Abschied vom Strand.
Bis zum letzten Zug habe ich noch eine gute Stunde. In der Pizzeria, in der ich am Nachmittag einen Cappuccino getrunken habe, ist viel Betrieb. In der kleinen Passage dagegen sind alle Geschäfte geschlossen. Da ist ein beleuchtetes Denkmal, eine Strasse führt leicht bergauf landeinwärts, vorbei an einem ziemlich noblen Hotel, aber Kneipen scheint es hier nicht mehr zu geben, zumindest keine Geöffneten, auch der Irish Pub am Bahnhof ist geschlossen.
Aber das China-Restaurant hat auf. Also einmal die buddhistische Fastenspeise und dazu ein großes Bier. Völlig erschöpft falle ich gegen elf Uhr ins Bett. Wieviel weit ich heute gelaufen? Vierzig Kilometer? Naja, aber dreißig ganz bestimmt. Sonne und Meer, eine Grenze und zwei Länder.
Und morgen muss ich wieder zurück, einmal quer durchs ganze Land…