Von Oberbayern nach Usedom und eine Nacht in Berlin (März 2007)

Mühldorf – Berlin: tschechischer Speisewagen, und Künstler im ICE

Ich habe noch ein Ticket übrig: freie Fahrt durchs ganze Land, egal wohin, egal, wie lang.
Was ist die längstmögliche Strecke, die man auf diese Weise bewältigen kann? Von Flensburg nach Oberstdorf oder lieber von Westerland nach Berchtesgaden? Oder von der Ostseeküste nach Basel, das wäre auch noch eine Option, vom äußersten Nordosten in den tiefsten Südwesten. Ich starte in Mühldorf, in Bayern, das ist im Südosten. Und ich will an die Ostsee, nach auf die Insel Usedom. Was ich da will? Eigentlich gar nichts. Egal. Ich will da jetzt hin. Um nachzudenken. Um auf neue Ideen zu kommen. Oder warum auch immer, einfach so.
Ich schaue nach möglichen Verbindungen: Wenn ich morgens um fünf den ersten Zug nähme, wäre ich am Nachmittag da. Oder soll lieber mit dem Nachtzug fahren? Oder eine Nacht in Berlin verbringen?
Durch die Ritzen der Rolladen dämmert das Tageslicht. Draußen scheint die Sonne. Natürlich habe ich es nicht geschafft, um fünf Uhr früh wach zu werden, es ist längst fortgeschrittener Vormittag. Aber keine Hektik. Man kann auch später noch losfahren. Und bin ich mir wirklich sicher, ob ich das wirklich will? Warum denn eigentlich? Während ich noch überlege, wird es Nachmittag, dann packe ich schnell zusammen, Unterwäsche für drei Tage, noch etwas Obst als Marschverpflegung und los geht’s.
Erstmal mit dem Auto zum Bahnhof. Schon nach wenigen hundert Metern stehe ich im Stau. Zehn Minuten später stehe ich immer noch. Ein Lastwagen auf der Brücke und blockiert die Fahrbahn. Und dann brauche ich Kleingeld für das Parkhaus, krame in meiner Geldbörse, habe viel zu wenig, krame weiter, finde noch ein paar Münschen und werfe sie in den Automaten… okay, es reicht.
Um sechzehn Uhr dreißig geht ein Zug nach Landshut.
Keine Minute zu früh erreiche ich den Bahnsteig, springe in den abfahrbereiten Dieseltriebwagen und Sekunden später zockelt der los. Von jetzt an habe ich wieder alle Zeit der Welt.
Wie flach die Gegend hier ist! Flach wie ein Brett, erst nach einer Weile wird es hügeliger, Neumarkt-St.Veit, bayrische Bauerndörfer, Zwiebelkirchtürme, Niederbayern. Schräg neben mir sitzt ein Polizist, ziemlich jung, nur ein Stern an der Uniformjacke, das ist noch nicht viel, wahrscheinlich noch in Ausbildung. Sieht nicht so aus, als ob er im Dienst sei, aber ein Polizist in Uniform hat immer freie Fahrt.
Eine knappe Stunde später bin ich in Landshut; hier muss ich zum ersten Mal umsteigen.
Der Regionalexpress nach Prag kommt mit fünf Minuten Verspätung. Vorne vier langweilige deutsche Nahverkehrswagons, dahinter dann die wunderschön-anachronistischen tschechischen Wagons: ein plüschiger Erster-Klasse-Wagon mit gerillten Sitzpolstern in rot-gelbem Farbton, dann ein Abteilwagen Zweiter Klasse und dann der Speisewagen.
Das Speiseabteil nimmt nur eine Hälfte des Waggons in Anspruch und auch nicht die volle Breite, es ist zum Seitengang hin abgetrennt. Man betritt es durch eine kleine Tür, dadurch wirkt es wie eine gemütliche kleine Eckkneipe, zu einer Seite hin Fenster, zur anderen Seite hin die Wand mit Holz-Furnier-Immitat. Auf den kleinen Tischchen liegen Spitzendeckchen, vor den Fenstern gelbe Vorhänge und kleine weiße Spitzengardinen. Auf den Tischen laminierte Spiesekarten in Tschechisch, deutsch und englisch. Vorn sitzen zwei Bayern, die offensichtlich schon ein paar Bier getrunken haben, dann ein Typ mit Laptop, der bestellt sich Würstchen und Cola-light.
„Hier sind die Würstchen ordentlich groß!“ sagt einer von den beiden Biertrinkern, „Du willst wohl Laptop-Würstchen, oder?“
Der Kellner braucht lange. Er notiert die Bestellungen auf einem kleinen Blöckchen. Kassiert bei den Bayern ab. Als wir in Neufahrn halten, hat er mich immer noch nicht bedient. Ob er mich überhaupt schon gesehen hat?
Ein Kaffee kostet Einsvierzig, ein Bier auch, und zwar ein großes, ein halber Liter. Das sind ja mal richtig anachronistische Preise!
Endlich kommt der Kellner, nimmt meine Bestellung entgegen, notiert es auf seiner Liste, sucht erst im Kühlschrank nach einer Flasche, dann nach einem Glas, stellt mir Beides auf den Tisch und gießt mir einen Schluck ein. Zwischen Landshut und Regensburg liegen nicht mehr als eine Dreiviertelstunde. Muß ich das Bier jetzt in aller Eile hinunterstürzen? Nein, ich habe alle Zeit der Welt.
Draußen zieht eine waldige, leicht hügelige niederbayrische Landschaft vorbei.
Meine Damen und Herren, nächster Halt ist Regensburg Hauptbahnhof!
Jetzt in aller Ruhe einpacken, bezahlen, meinen Koffer aus dem Gepäcknetz holen und aussteigen.
In Regensburg werden die vorderen deutschen Waggons abgekuppelt und von einer Rangierlok abgeholt. Der Speisewagen und die anderen tschechischen Waggons werden hinter einer Diesellokomotive durch den bayrischen Wald zuckeln.
Ich habe etwas Zeit, gehe in die Bahnhofshalle, und versuche, herauszufinden, wie ich weiterkomme. Bis Berlin geht’s wohl ganz gut, dann hänge ich dort über Nacht wohl ein paar Stunden fest.
Oder gibt’s eine Alternative? Gibt es von Nürnberg noch einen späteren Zug? Oder von Göttingen? Von Hannover? Vergiss es! Freu Dich auf eine nächtliche Exkursion durch Berlin!
Ich habe noch Zeit, einen Kaffee zu ordern, im Pappbecher zum mitnehmen zu neunundneunzig Cent, mit mehreren Töpfchen Milch und ordentlich Zucker, dann geht’s über die Brücke zum Bahnsteig und mit dem Aufzug hinunter.
Mein Zug wird angesagt, fährt ein und ich steige in den letzten Waggon, der ist nicht sonderlich voll.
Mit routiniertem Blick suche ich zielsicher einen Platz mit einem Tischchen – und Steckdose –, und eine Dame mittleren Alters setzt sich genauso zielsicher mir gegenüber, Typ erfolgreiche Businessfrau ohne Ehering.
„Ist da noch frei?“
Alles gut, sofern wir uns über die Steckdosen einig werden.
Sie baut ihren Laptop auf und im nächsten Moment wird sie von einem Herrn in Cordanzug mit Krawatte angesprochen:
„Entschuldigen Sie, wir machen eine Fahrgastbefragung, dürfte ich Ihre Fahrkarte sehen?“
Sichtlich genervt reicht sie die Fahrkarte herüber.
„Tägliche Fahrt zur Arbeit, nehme ich an?“
Sie nickt.
Er reicht ihr eine laminierte Karte mit mehreren Fragen, dann bin ich an der Reihe.
„Sie fahren jetzt nach…“
„Ahlbeck. Keine Ahnung, wo das liegt!“
„Aha, eine Reise ins Ungewisse?“ fügt die Frau ein.
Ich stelle mich absichtlich dumm.
„Na ja, irgendwo an der Ostsee, vermute ich…“
„Sie steigen in Nürnberg um, nehme ich an?“
„Keine Ahnung, wird schon stimmen, wenn Sie das so sagen…“
Ich nehme an, daß ich noch ungefähr fünfmal werde umsteigen müssen, aber Eins nach dem Anderen.
„Aha…. beruflich oder privat?“
„Beruflich!“ lüge ich.
„Also Dienst- oder Geschäftsreise?“
„So ungefähr.“
„Welche Möglichkeit soll ich jetzt ankreuzen?“
„Von mir aus halt Dienstreise an!“
Dann geht es um Buchung über Internet oder Kauf am Automaten, würde ich eine Service-Gebühr akzeptieren – natürlich nicht – und wie oft ich mit der Bahn fahre, ob ich wenn nicht mit Sonderangebot zum regulären Preis oder mit dem Auto fahren würde. Mit dem Auto, lüge ich.
Dann kommt der Schaffner, knipst die Fahrkarte.
„In Nürnberg umsteigen Richtung Hamburg!“ sagt er auswendig. Der kennt sich aus.
Die Frau arbeitet konzentriert am Laptop.
Draußen niederbayrische, Oberpfälzer, und fränkische Abendlandschaft, sanft hügelig mit viel Wald.
Zum Umsteigen in Nürnberg habe ich nicht viel Zeit, ich muss den Bahnsteig wechseln, und kaum bin ich da, da kommt der Anschlusszug auch schon.
Die vordere Hälfte geht nach Hamburg, die hintere Hälfte nach Bremen. Welche Hälfte mag wohl leerer sein?
Die Leute stehen vor den Türen, drücken das Knöpfchen, nichts bewegt sich. Vorm hinteren Teil stehen deutlich weniger Leute.
„In diesen vier Waggons sitzen maximal hundertdreißig Reisende!“, sagt der Schaffner, „auch ohne Reservierung finden Sie Platz!“
Steckdosen gibt es aber nur an den Plätzen mit Tisch, und das ist nur ein kleinerer Teil der Plätze. Ich finde einen Tisch-Platz, der erst ab Göttingen reserviert ist. Gegenüber sitzt ein junger Mann mit Cordhose, schwarzem Cord-Hemd und interessantem Haarschnitt, vor ihm liegen mehrere große Bögen Papier. Er zeichnet konzentriert. Schräg gegenüber schaut sich jemand auf einem Laptop eine DVD an. Den Ton kriegt man natürlich nicht mit, aber man sieht die Bilder: Fiese Anzug-Typen, Eine Verletzte im Krankenhaus, ein weiser, grauhaariger Arzt mit weißem Kittel und Krawatte, Tropische Landschaften, schöne Frauen.
Der Künstler gegenüber legt sich quer über zwei Plätze und versucht zu schlafen. Draußen wird es dunkel.
Der Schaffner kommt, knipst meine Fahrkarte zum zweiten Mal ab.
„Sie wollen nach….?“
„Ahlbeck… ich muss sagen, ich weiß selbst nicht so richtig, wo das eigentlich liegt!“ lüge ich.
„An der Ostsee, auf der Insel Usedom!“ sagt der Künstler wie aus der Pistole geschossen.
„Können Sie mir sagen, wie ich dort hinkomme?“
Der Schaffner stöhnt.
„Bisschen spät losgefahren!“ sagt er, „hättense sich mal besser vorher drum gekümmert, vor allem wenn man so lange Strecken fährt!“
Er schaut in seinem Taschencomputer nach.
„Über Hamburg? Da müssense fünfmal umsteigen und stehen zwischen Ein Uhr fünfundvierzig und Vier Uhr fünf in Lübeck rum… in Berlin geht’s erst um sechs Uhr weiter… Oder vier Uhr nach Eberswalde… aber das nutzt Ihnen auch nichts….“
Ich bedanke mich.
„Sagen Sie mal, kennen Sie Usedom?“, frage ich den Künstler.
Er erinnert sich an einen Sommerurlaub, muss wohl sehr lange her sein, als Kind mit den Eltern noch. Die Kaiserbäder hat man es genannt, eine langgestreckte Insel, ein Badeort neben dem anderen, die heissen alle ähnlich…
Ich störe ihn wohl in seiner Kreativität.
Das Pärchen hat den Film zu Ende gesehen. Im hinteren Waggon ist es ziemlich voll, im vorderen etwas leerer, im Raucherwaggon gibt’s ziemlich viele freie Plätze, auch mit Steckdose, aber jetzt zwei Stunden geräuchert zu werden, danach ist mir wirklich nicht.
Zweihundertfünfzig Stundenkilometer. Würzburg, Fulda, Kassel-Wilhelmshöhe. Dann kommt Göttingen, da muss ich umsteigen. Der Künstler steigt ebenfalls um, das Paar, welches den Film geschaut hat, auch.
Schräg hinter mir ein Dauertelefonierer: „Der ICE hatte fünfundzwanzig Minuten Verspätung und ich habe ihn noch gekriegt, toll, nicht wahr?“
Schräg gegenüber ein berlinerndes Paar, sie hat geschlafen und ist aufgewacht:
„Du ich hab so schön jeträumt…“ Dann reden sie über Theater. Sie waren wohl in Freiburg. Sie setzt sich ziemlich imposante Kopfhörer auf.
„Hier, hörmal!“
„Ja, kenn ich…. Ich kenne da so ein Arschloch in Hamburg, der hat die Platte zwei mal und will mir nicht eine abgeben… Der legt die gar nicht auf, will die nur besitzen.“
„Ach, Du meinst als Vinyl?“
„Klar, ich leg nur Vinyl auf“
Schräg hinter mir versucht eine junge Frau in schwarzem Kostüm zu schlafen. Sie sieht aus, als käme sie gerade von einem Vorstellungsgespräch. Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir Braunschweig, Ihre nächsten Reisemöglichkeiten… Und beachten Sie auch die Lautsprecherdurchsagen im Bahnhof.
Bin mal gespannt, welche Möglichkeiten sich in Berlin so zwischen ein Uhr nachts und vier Uhr früh bieten. Soll ich versuchen, mit der S-Bahn zum Alexanderplatz zu kommen und von dort zu Fuß zum Prenzlauer Berg? Mal sehn, was dort an Kneipen noch geöffnet ist…
Braunschweig. Früher kam jetzt die Transitstrecke nach West-Berlin, da gab es von hier aus englische Militärzüge, die für Normalsterbliche nicht zugänglich waren… Diese Transitstrecke, mit Transitvisum und so, das ist lange her, ich hab’s genau ein einziges Mal mitgemacht, skurrilerweise unmittelbar nach dem Mauerfall.
Die Frau im dunklen Kostüm telefoniert.
„Ja…. Ist ganz gut gelaufen, aber das andere würde ich lieber nehmen, jetzt muss ich mal sehen, ob ich das absage, nicht dass ich dann nachher gar nichts habe…“
Also wirklich Vorstellungsgespräch.
Stille.
Zwischen Wolfsburg und Berlin geht’s mit Tempo 250 vorwärts. Im Eingangsbereich bei den Türen hängt hinter Plexiglas eine Landkarte mit dem deutschen Eisenbahnnetz. Aha, da ist Ahlbeck. Doch gar nicht so weit nördlich, eher östlich. Ich bin schon gespannt auf die Grenze zu Polen. Ob es sich lohnt, mal nach Stettin zu fahren und wieder zurück?
Mal sehen. Kann ich übermorgen machen.
Der Künstler malt nicht mehr, er liest jetzt. Der Musiktyp telefoniert.
„Ja, kannste das mal einfach alles auf ne CD brennen und mir schicken? Mich interessiert alles, was der gesungen hat, aber ich brauche die Stimme, hörst Du, nur die Stimme ohne Begleitung! Wann habt Ihr Probe? Am Vierten? Würde ich mir gerne anschauen, allerdings hab ich am Fünften in Freiburg Vorführung, mal sehn wie ich das mache, mit dem Zug über Nacht oder ich muss halt in Göttingen pennen, ich hab da nur zur Zeit keine Optionen mehr, kannste mal Andreas fragen, oder ich frage den mal?“
Dann blättert er wieder in seinem Buch. Die Vorstellungsgespräch-Frau blättert in irgendwelchen Unterlagen, sie ist offenbar müde.
Ich kann nicht schlafen, bin zu aufgeregt.
Ob ich mein Gepäck in ein Schließfach packen soll? Ob es am neuen Hauptbahnhof überhaupt Schließfächer gibt? Ich habe nämlich so was gehört, dass es da gar keine mehr geben soll. Und am Alexanderplatz? Aber fahren um die Zeit überhaupt noch S-Bahnen? Und was für Kneipen werden wo noch geöffnet sein? Discos, Volldampfschuppen und schicke Clubs mit Türsteher fallen schon mal aus, so wie ich gekleidet bin, mit dreckigem Mantel, Wanderschuhen und Gepäck. Szene-Cafes? Gemütliche Cafes? Eckkneipen? Schummerige Kaschemmen? Wird’s alles geben in Berlin.
Ich bin gespannt.

Eine Nacht in Berlin

Um halb eins kommen wir in Berlin Hauptbahnhof an. Endstation, der Zug hält unten im Keller.
Über Rolltreppenlandschaften fahre ich hinauf in die höheren Ebenen. Um fünf Uhr dreißig geht ein Zug nach Eberswalde, und um sechs Uhr dreißig einer direkt nach Stralsund über Züssow – mit Anschluss nach Usedom.
Es ist nicht viel los hier am Bahnhof. Eigentlich sollte ich jetzt mal herausfinden, was es hier am Bahnhof nachts alles an Infrastruktur gibt, angefangen von den Schließfächern, weiter über welche Cafés, Kneipen oder Wartesäle geöffnet haben. Wartesäle scheint es gar nicht zu geben. Und Schließfächer?
Ein Piktogramm weist zu einer Gepäckaufbewahrung, aber ich laufe mehrmals auf den verschiedenen Ebenen im Kreis bis ich es endlich finde. Schließfächer? Gibt’s aus Sicherheitsgründen nicht mehr. Gepäck aufbewahren kostet drei Euro. Sechs Mark! Vor fünf Jahren hatte es noch ein oder zwei Mark gekostet. Ist die Gepäckaufbewahrung denn rund um die Uhr geöffnet, oder riskiere ich, hier in ein paar Stunden vor verschlossenen Türen zu stehen?
An den Bahnhöfen Friedrichstrasse oder am Alexanderplatz soll es noch Schließfächer geben. Ich fahre mit der S-Bahn zum Alexanderplatz. Ich löse kein Ticket, sondern gehe mal davon aus, dass meine Fahrkarte hier gilt. Hier gibt es Schließfächer, aber die kosten auch mindestens drei Euro. Aber bin ich mir sicher, dass ich hier nachher wieder vorbeikomme? Also gut, dann nehme ich mein Köfferchen lieber mit in die Stadt, dann bin ich flexibel und spare das Geld.
Im Vorbeigehen entdecke ich eine Gedenktafel: hier hat vor noch nicht allzu langer Zeit die erste Hochzeit in einem Bahnhof stattgefunden. Dann ein Werbe-Panoramafoto von irgendeinem Dorf, sechzig Kilometer außerhalb von Berlin. Erwarten die wirklich, dass jemand bereit ist, aus der Metropole in die Provinz zu ziehen?
Ich gehe über den Alexanderplatz. Es ist etwa ein Uhr nachts. Einige Lokale haben noch geöffnet, so gerade noch, aus einem Kino kommen die letzten Leute nach der Spätvorstellung. Eine Bar im Obergeschoss eines Geäbudes ist dekoriert wie ein Schiff. Blick auf das Rote Rathaus: Irgendwas fehlt hier. Haben sie irgendwas abgerissen? Ob der Palast der Republik noch steht?
Ich überquere den Alexanderplatz, gehe in Richtung Hackescher Markt, da ist ein Lokal, Cocktailbar oder so, welches damit wirbt, bis fünf Uhr geöffnet zu sein. Gut zu wissen. An der S-Bahn-Station Hackescher Markt viel Trubel: Menschen, Straßencafés, Kneipen und Cocktailbars.
Ein paar Meter weiter spricht mich eine Prostituierte an: „Hey, hast Du zufällig etwas Zeit?“ – Und wenn ich freundlich ablehne: „Und warum nicht?“. Ich überquere die Straße. An einer Imbissbude esse ich eine Falafel. Gegenüber stehen noch mehrere Prostituierte, aber mich spricht keine mehr an. Einmal kommt eine mit einem Freier im Schlepptau die Straße entlang und erklärt ihm, wie das jetzt abläuft. Er versucht, ihren Hintern zu grapschen. Er ist bemerkenswert jung und sieht aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann.
Ich will jetzt zum Prenzlauer Berg. Auf dem Stadtplan habe ich mir den Weg genau angeschaut, eigentlich müsste ich also wissen, wo’s lang geht: von der U-Bahn-Station Weinmeisterstraße aus immer bergauf. Aber die Gegend hier kommt mir irgendwie zwielichtig vor, es sind kaum noch Menschen unterwegs und nur noch ein paar Imbissbuden geöffnet. Okay, es ist halb zwei in der Nacht, aber das hier Berlin! Ich komme an einem Lokal vorbei, welches von außen genau so aussieht, wie man sich eine düstere Ganovenspelunke vorstellt und gehe rasch weiter.
Ich bin froh, als ich den Zionskirchplatz erreiche, hier fährt die Straßenbahn und hier sieht’s gleich freundlicher aus. Ein Café scheint noch geöffnet zu sein. Zeit für mein erstes Bier? Ich trete ein.
„Habt Ihr noch offen?“
„Na ja, für eine kleine Runde geht’s noch…“
Aber die Kollegin schüttelt den Kopf, sie sind schon dabei, die Stühle hochzustellen.
Nebenan ist eine Kneipe, die angeblich bis drei Uhr geöffnet haben soll, aber jetzt ist es noch nichtmal zwei und das Lokal ist völlig leer. Um die Ecke, zur Kastanienallee hin, sieht es etwas besser aus. Da ist ein Lokal, welches ganz einladend aussieht, mit hohen Fenstern, die Fensterbänke als Sitzbänke mit kleinen quadratischen Tischchen davor und passenden Stühlchen, rötliches Licht. Drinnen ist noch eine Menge los, überwiegend junges Publikum. Gleich in der Nähe des Eingangs finde ich einen Platz und schiebe meinen Koffer verschämt unter den Tisch.
Bloß wie komme ich jetzt zu meinem Bier? Gibt’s hier Tischbedienung oder holt man sich seine Sachen an der Theke? Die beiden Damen hinter der Theke beachten mich nicht. Erst nach einer Weile gelingt es mir, Blickkontakt aufzunehmen und ich bekomme eine Flasche Becks für zwei Euro sechzig, Gläser gibt’s nicht.
Ich trinke mein Bier und schaue mich um.
An der Theke steht ein Grüppchen, zwei Jungs, zwei Mädels, vielleicht Anfang Zwanzig, eigentlich unterhalten sich jeweils die beiden Jungs und die beiden Mädels miteinander, nur hin und wieder schmiegt sich die eine Frau eng an ihren Partner, sie sieht sehr verliebt aus. Rechts von mir ist noch ein separater Raum, da sitzen auch noch mal ein paar Leute. Und dann ist da noch ein Grüppchen, die brechen aber gerade auf.
Ich trinke aus und breche auf, als die Barmädels dezent anfangen, in dem unbesetzten Teil des Lokals die Stühle hochzustellen.
Ein Typ aus der Gruppe hat auch einen Rollkoffer dabei, entdeckt mich, kommt auf mich zu, begrüßt mich mit Handschlag. Ich gehe die Kastanienallee entlang, inzwischen geht es auf drei Uhr zu, fast alle Lokale sind geschlossen. Irgendwo steht ein Fotoautomat mitten auf der Straße.
Ich biege in die Oderbergstrasse: holperiges Kopfsteinpflaster, unebene Gehwegplatten. Ein Lokal ist noch geöffnet, ansonsten alles zu: Das legendäre „Entwederoder“, das indische Restaurant, die Läden, und ein Friseur der „Fräulein soundso“ heißt (irgendein Name, aber „Fräulein“ davor). Außerdem gibt es noch eine Feuerwache und eine Autowerkstatt. Am Ende der Strasse ist ein Durchgang, dahinter eine breite Straße mit Straßenbahnhaltestelle und irgendwo im Dunkeln der Mauer-Park. Da irgendwo habe ich vor Jahren mal eine „Frühstücksstube“ entdeckt, wo man ab 4 Uhr frühstücken kann, aber erstens ist das lange her und zweitens noch lange nicht vier Uhr früh.
Ich betrete das offene Lokal, es heißt „Nemo“. Die Musik ist etwas lauter: Oldies, also Achtziger-Jahre Zeugs, das Publikum vielleicht überwiegend in den Dreißigern, fast nur Männer. Ist das ine Schwulenkneipe? Dann entdecke ich zumindest eine Frau. Mir gegenüber auf der anderen Seite der Theke sitzt ein grauhaariger Mann, dann ist da noch ein kleines Grüppchen im Hinteren Teil des Raums. An den Wänden hängen Star-Treck-Poster und ein Raumschiffmodell.
Meinen Koffer stelle ich diskret in der Nähe der Tür ab, dann setze ich mich an die Theke und bestelle ein Bier. Eine Frau kommt rein – lange dunkle Haare, südländischer Typ, eigentlich recht hübsch – mit Mantel und Mütze und fragt den Mann hinter der Theke etwas auf englisch, fragt wohl nach dem Weg irgendwohin, er erzählt etwas von Nachtbussen, dann fragt sie, was ein kleines Bier kostet. Er zapft, sie kramt nach Geld, kramt immer hektischer, setzt sich in den Nebenraum, kramt weiter und weint. Er stellt das Bier zur Seite, nach einer Weile kommt sie zurück, erklärt, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hat und geht wieder.
Nach einer Weile beginnt er, im hinteren Teil des Lokals die Stühle hochzustellen. Ich trinke aus und bezahle. Zwofuffzich für einen halben Liter gezapftes Bier.
„Komm gut heim!“, sagt der Wirt.
Ich gehe die Kastanienallee hoch bis zur U-Bahn-Station Schönhauser Allee. Einige Imbissbuden sind noch geöffnet, sogar eine Pizzeria. Ich drehe wieder um. Der Prater ist dauerhaft geschlossen bis April nachdem es dort mal gebrannt hat. Ich entdecke ein weiteres Lokal auf der Kastanienallee, welches noch geöffnet hat, hier ist das Publikum anders, ein wenig schicker, „szeniger“. Jungs mit Kapuzenpullover, der Typ hinter der Theke arabisch oder türkisch wirkend, mit Rasta-Locken. Das Becks gibt’s wieder in der Flasche und kostet auch nur zwofuffzich.
Ich lese Zeitungen. Im Lokal über der Tür hängt eine Uhr, inzwischen geht’s auf vier Uhr zu. Wenn ich den Zug nach Eberswalde um fünf Uhr dreißig kriegen will, sollte ich los. Ich bleibe aber sitzen.
Als irgendwann gegen halb fünf aufstehe und gehe, bin ich nicht der letzte Gast. Inzwischen beginnt die Sache, mir Spaß zu machen. So eine Transit-Nacht in Berlin, das hat schon was, allein zu wissen, dass sowas tatsächlich möglich ist. Wo sonst geht das? In Hamburg? München? Köln? Wien? Frankfurt? Kenne ich alles noch nicht. Aber jetzt muss ich mich auf den Weg zurück zum Bahnhof machen.
Einfach den Straßenbahnschienen nach. Ich gehe mitten auf der Fahrbahn. Es kommt kaum ein Auto, aber die Straßenbahnen fahren wieder häufiger, sie sind die ganze Nacht durch gefahren. Ich gehe runter zum Weinbergsweg, zur Weinmeisterstraße, mache einen großen Bogen um die zwielichtige Ecke vom Hinweg. Inzwischen haben wieder mehr Kioske geöffnet, auch Imbissbuden, die Kneipen hingegen sind jetzt alle dicht.
In der Nähe vom Hackeschen Markt arbeiten noch ein paar Prostituierte, eine stellt sich mir in den Weg, lächelt mich an: „Und wohin gehst Du?“ – „Zum Bahnhof!“ sage ich.
Ich passiere die Bahnunterführung, an der Museumsinsel vorbei, unter den Linden: Schicke Neubauten gibt’s hier, Hotels und das eine oder andere Apartmenthaus. Der Palast der Republik existiert noch, auf großen mehrsprachigen Schildern steht etwas von „Rückbau statt Abbruch“. Ist das nicht das Gleiche?
Dann ein prächtiger Palast nach dem anderen, weiße klassizistische Schinckel-Bauten. Der Weg ist viel länger als ich ihn in Erinnerhung habe und bis zum Brandenburger Tor sind es noch eineinhalb Kilometer. Diese eineinhalb Kilometer ziehen sich!
Vorbei an repräsentativen Gebäuden, Baustellen, Firmenhauptquartieren und vielleicht auch der einen oder anderen Botschaft.
An der Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße eine große Baustelle, Da haben sie wohl ein großes Haus abgerissen, wahrscheinlich das ehemalige Intourist-Hotel aus DDR-Zeiten. Vor dem Brandenburger Tor sind noch mehr Baustelle, parallel dazu auf dem Grünstreifen in der Mitte von Unter den Linden läuft gerade eine Art Ausstellung mit Säulen mit Videobildschirmen und Ton, in denen es um die Geschichte der Europäischen Union geht. Fünfzig Jahre römische Verträge, das ist letztens ja groß gefeiert worden.
Ich durchquere das Tor, durch den mittleren Durchgang. Ein einsamer Wachmann spricht in sein Funkgerät. Dann gehe ich am Reichstag vorbei, durch das menschenleere Regierungsviertel. Jetzt kann man den Bahnhof schon sehen, dann kommt ein großes freies Feld, dann geht’s über die Brücke, dann kommt endlich der Bahnhof.
Es ist halb sechs und ich merke jetzt, dass ich völlig übermüdet bin.
Ich streife durch Buchhandlungen und genehmige mir einen Kaffee und ein Marzipancroissant. Hinten an der Bäckerei kann man sich hinsetzen. Ich merke, wie erschöpft ich bin. Zwei Frauen mittleren Alters sitzen neben mir und rauchen.
Weiter vorn ist ein Cafe mit Ledersitzen. Jemand hat sich einen Kaffee in einem Pappbecher von einem billigen Lokal geholt und da hin gesetzt, die Kellnerin vertreibt ihn nicht. Es ist sechs Uhr durch. Viertel nach sechs. Zwanzig nach sechs, jetzt muss ich los zum Bahnsteig.
Ich nehme den Aufzug, der fährt erst nach oben, dann runter, wo ich feststelle, dass ich auf dem falschen Bahnsteig bin, also nochmal hoch und wieder runter, diesmal endlich auf den richtigen Bahnsteig, den ich im selben Moment erreiche, in dem der Doppelstockzug einfährt.

Von Berlin zum Ostseestrand

Ich lasse mich auf einen Sitz fallen, setze die Sonnenbrille auf und schiebe die Mütze darüber und mache die Augen zu. Am Bahnhof Gesundbrunnen kommt die Schaffnerin, kurz rausblinzeln, Mütze hochschieben, draußen ist es schon hell, blauer Himmel, die Schaffnerin schaut sich mein Ticket verdächtig lange an, knipst es dann aber anstandslos ab. Ich schlafe ein, schlafe bis Pasewalk, döse über flaches, reizloses Land. Anklam, Ducherow und immer noch ein Bahnhof und noch einer, dann endlich Züssow, da muss ich umsteigen, der blaue Triebwagen der Usedomer Bäderbahn steht schon bereit. Ich steige ein.
Es geht los. Die Bahnhöfchen unterwegs sind zum Teil schick renoviert. In Wolgast geht es über die Brücke auf die Insel. Noch ein paar Stationen, dann kommt Koserow.
Hier muss ich raus. Der Zug dieselt davon und ich stehe im Nirgendwo.
Der Ort besteht aus niedrigen, kleinen Backsteinhäusern, es gibt einen Laden und eine Post und eine ziemlich lange Hauptstraße und irgendwo ist mein Hotel.
Und dahinter ist das Meer. Ich lasse mich in den Sand fallen, schließe die Augen und lausche dem Rauschen der Wellen.

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