(März 2022)
Morgens um neun steige ich in Stralsund in einen Bummelzug. Es ist ein kühler Morgen, der Himmel ist blau. Ich will an die Ostsee, will Meer erleben, Neues entdecken und Bahnfahren: Richtung Nordosten, in den aller-äußersten Winkel Deutschlands und ein kleines Stück weiter über die Grenze nach Polen.
Zunächst geht es über flaches Land, irgendwo liegt ein verrostetes Trabi-Wrack im Gebüsch.
Achtunddreißig Minuten Aufenthalt in Greifswald: Zeit für einen kurzen Spaziergang in Richtung Innenstadt durch ein parkartiges Gelände entlang der alten Wall-Anlagen, Blick auf den Dom und die Universität. Und jetzt? Lieber rechtzeitig umkehren um den Zug nicht zu verpassen. Am Bahnhof ist nichts los. Nur der Service-Store ist geöffnet. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Nein, alles gut, passt schon, mit schlechtem Gewissen begebe ich mich zurück zum Bahnsteig.
In Züssow muss ich nochmal umsteigen, der blaue Bähnchen nach Usedom steht schon bereit und dieselt wenige Minuten später los. Rehe äsen auf den frisch eingesäten Feldern. Es geht durch Kiefern- und Buchenwälder, dazwischen Tümpel und Sumpf, kahle Birken, Seen und Teiche mit Schwänen, Schilf und dann wieder Kiefern. Vom Bahnhofsgebäude von Wolgast blättert der Putz.
Fünf Minuten Aufenthalt, genug Zeit für eine Zigarettenpause, mehrere Leute steigen zum rauchen aus.
Dann geht’s weiter, im Schritttempo über eine Brücke, welche einen schmalen Meeresarm überquert – nicht breiter als ein durchschnittlicher Fluss – und dann bin ich auf Usedom, Deutschlands zweitgrößter Ostseeinsel, deren östlichster Teil zu Polen gehört.
Es geht durch eine Dünenlandschaft, dazwischen Wiesen, Felder und Kiefernwälder, das Meer ist noch nicht zu sehen, dafür eine sumpfige Boddenlandschaft im Hinterland.
„Guten Tag, die Fahrscheine bitte, und die Masken aufsetzen!“
Der Typ neben mir macht eine demonstrativ wegwerfende Handbewegung. Der Schaffner wird deutlich: „Da ist die Tür!“
Der Typ nimmt einen Schluck aus seiner Schnapsflasche, setzt die Maske auf, nimmt sie aber gleich wieder runter, sobald der Schaffner ausser Sichtweite ist.
Ahlbeck-Grenze: großer, leerer Parkplatz, dahinter auf polnischer Seite eine Tankstelle. Früher kam man hier nur zu Fuß rüber. Das Bähnchen endete hier und auf polnischer Seite gab einen riesengroßen Markt mit viel Ramsch, Zigaretten, Alkohol und Gartenzwergen. Jetzt fährt der Zug weiter bis Świnoujście.
In Świnoujście Centrum endet die Strecke an einem unauffälligem Prellbock. Im Ort gibt es weiterhin Zigarettenläden, Schnapsläden, Geldwechselbuden und Restaurants mit bodenständiger polnischer Hausmannskost, in den Augen von deutschen Touristen immer noch billig.
Vorbei an einem Park mit Kletterbäumen gelange ich an die Strandpromenade. Weißer Sand und blaues Meer, blauer Himmel mit weißen Wolken, ein paar Spaziergänger und ein Fährschiff, welches gerade in Richtung Schweden ausgelaufen ist.
Ich gehe am Strand entlang nach Westen.
Die Zugangswege, die über die Dünen hinweg landeinwärts führen, sind nummeriert, vorhin war Nummer 7, schon wenige Minuten später habe ich Nummer 4 passiert, und dann kommt Nummer 1. Und dahinter?
In den Dünen steht eine auffällige Markierungsbake. Darauf hin zuführend ein Bohlenweg. Bin ich noch in Polen oder schon in Deutschland? Darf man hier überhaupt so ohne Weiteres über die Grenze?
Na, warum nicht, wir haben schließlich seit Jahrzehnten offene Grenzen in der EU!
Und was ist mit den aktuellen Corona-Regeln? Ach, es wird schon niemand auf die Idee kommen, mich in Quarantäne zu schicken, ich bin ja geimpft und außerdem sind die Regeln ja längst schon wieder gelockert.
Mitten in den Dünen steht ein kleines Denkmal mit Schildern, bunten Grenzpfosten und Informationstafeln. Auf deutscher Seite fehlt auch nicht der Hinweis auf die Kurtaxe.
Noch nie zuvor habe ich die deutsch-polnische Grenze zu Fuß am Strand überquert, als ich das letzte Mal hier war, war das noch nicht erlaubt. Aber heute hält mich niemand auf.
Ich gehe weiter am Strand entlang. Irgendwann kommt eine Strandbar, die ist aber noch geschlossen. Dann ein Strandkorbverleih, auch der noch geschlossen. Ein Stück weiter hinten im Dunst die Seebrücke von Ahlbeck, die wirkt zum Greifen nah, ist aber noch ganz schön weit weg, hier am Strand lassen sich Entfernungen so schlecht schätzen.
Auf der Seebrücke gibt’s ein Restaurant. Ich zeige brav meinen Corona-Impfnachweis vor bestelle Kaffee und Kuchen und checke die Fahrpläne der Bimmelbahn.
Wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es tatsächlich heute noch bis Rügen: zwei Ostseeinseln an einem Tag, und eine Grenze. Also los!
Über die Strandpromenade und dann durch den Ort gelange ich zum Bahnhof und das Bähnchen tuckert brav bis Züssow. Da muss ich umsteigen. Fünfzehn Minuten Aufenthalt.
Gibt es noch eine Steigerung von „In the Middle of Nowhere“? Hier gibt es nicht nur nichts, sondern gar nichts, absolut gar nichts. Ein Bahnsteig mit Gleisen links und rechts. An Gleis Eins parkt der Triebwagen der Usedomer Bäderbahn, an Gleis 2 halten die Züge auf der Hauptstrecke, in beide Richtungen. Dazwischen ein Bahnsteig und… nichts.
Also: ein Fahrplan. Ein Fahrkartenautomat. Ja, sogar zwei zügige Wartehäuschen aus Plexiglas mit fest verschweißten Metallrohrstühlen, auf dem Boden Scherben und die eine oder andere leere Flasche. Um zu Fuß von hier weg zu kommen, muss man die Schienen überqueren, auf einem kleinen beschrankten Bahnübergang. Dahinter ist ein kleiner Platz, ein Straßenrondell. Dort parkt ein einsames Taxi. Es gibt ein ehemaliges Empfangsgebäude, aus rotem Backstein, das ist verrrammelt und vernagelt, steht leer. In der Nähe ein paar Wohnhäuser, flache Gebäude, der Putz entweder braun oder auch in Pastellfarben, hier und da bröckelt er ab.
Keine Gastronomie, kein Laden, kein irgendwas, noch nichtmal ein Automat. Ein einsames Plakat für eine „Raststätte“, zehn Minuten zu Fuß von hier, das Lokal ist Dienstags bis Sonntags (oder nur an 5 Tagen in der Woche?) von 10 bis 17 Uhr geöffnet.
Der Zug in Richtung Berlin fährt ein, fährt weiter, ein paar Leute steigen aus und gehen in Richtung Nicht-Ort. Andere warten weiter. Ein paar trauen sich in eines von den beiden Wartehäuschen. Der Fahrer des Usedom-Triebwagens startet den Motor.
Endlich kommt der Zug nach Stralsund, ich steige ein, nach vorn in den ersten Wagen. Hier gibt es Steckdosen. Zum Glück! Das war wirklich kritisch, denn aufgrund der zahlreichen Fotos ist der Handy-Akku inzwischen in die Knie gegangen. Was von daher ein Problem ist, als mein Ticket ausschließlich dort gespeichert ist und man außerdem jedes Mal, wenn man irgendwo einen Kaffee trinken will, seinen Corona-Nachweis vorzeigen muss.
Eine Flaschensammlerin schaut die Mülleimer durch, ein Typ pampt sie an, behauptet, dass Betteln verboten sei, droht, die Polizei zu suchen, die arme Frau ist ganz verschüchtert. Andere mischen sich ein und bieten ihr demonstrativ ihr Leergut an.
Weiter geht’s über endlos weites, karges Ackerland… Usedom hat eine erstaunlich abwechslungsreiche Landschaft, manchmal sogar fast hügelig, zumindest wellig, wohl eine Art Dünenlandschaft, vielleicht auch eiszeitliche Endmoränen, was weiß ich, jedenfall mit Kiefernwäldern (oder Mischwäldern), Sümpfen und Binnenseen. Hier hingegen ist es vor allem flach. Die Bahnhofsgebäude sind verfallen, manchmal recht schöne Backstein- oder Fachwerkgebäude, die einsam vor sich hingammeln. Oder bediene ich da bloß das übliche Klischee vom verfallenen Osten?
In Stralsund steige ich um in den Zug nach Sassnitz, von dort geht es über den Damm nach Rügen. Der Zug ist ziemlich voll und die Landschaft auf Rügen sieht auch nicht anders aus als auf dem Festland oder auf Usedom.
Der Himmel ist inzwischen bedeckt und die Wolken werden dunkler. Hinter Lietzow, hier fängt der schöne, wilde Teil von Rügen an, mit den Binnenseen bzw. Meeresarmen, hügeligerer Landschaft… die Bäume sind immer und überall noch kahl.
Um kurz vor 7 komme ich in Sassnitz an. Ich bin erstaunt, wie trist der Bahnhof inzwischen aussieht, nur noch ein Gleis, die anderen Gleise rausgerissen, das Empfangsgebäude heruntergekommen, aber noch bewirtschaftet.
Ich gehe die Bahnhofsstraße hinunter in Richtung Meer. Ost-Tristesse, Ost-Schick, ziemlich leer, nur einmal ein paar Jugendliche. Ich biege nach links in die Straße parallell zum Meer. Blick auf den Hafen – oder ehemaligen Hafen, da gibt es eine kühne Fußgängerbrücke.
Das gammelige „Hotel Rügen“, Interhotel aus DDR-Zeiten. Die eher triste Innenstadt liegt links, aber es soll auch eine Altstadt geben, keine Ahnung, wo die sein soll.
Genau zwei Stunden habe ich Zeit, bis zum letzten Zug zurück aufs Festland. Das heißt: nach spätestens einer Stunde muss ich umdrehen, wo auch immer ich bin. Schaffe ich es bis zum Steilufer? Ich gehe stramm, an Plattenbauten, Wohnhäusern, der einen oder anderen schönen alten Villa im Stadium des Verfalls vorbei, hin und wieder Restaurants, Läden, die gemütlich, nett ausssehen, da hat jemand was draus gemacht, ich habe nur Blick für die Hinweisschilder zu den Kreidefelsen. Rechter Hand irgendwo liegt das Meer.
Endlich erreiche ich den Waldrand. Noch 2,3 Kilometer bis zu den Wissower Klinken. Schaffe ich das? Ich laufe stramm weiter über den breiten Waldweg durch lichten Buchenwald.
Trampelpfade führen nach rechts, zum Ufer und durch die Bäume hindurch schimmern die weißen Kreidefelsen. Da sind sie also!
Der Wind frischt auf, wird heftiger, und von unten rauscht das Meer im letzten Abendrot…
Also schnell ein Foto gemacht, und noch eins und noch eins und dann noch ein Stück weiter am Klippenrand. Sind das schon diese berühmten Klinken? Nein, die sind immer noch eineinhalb Kilometer entfernt, aber egal, so viel anders wird’s dort auch nicht aussehen, ich habe die weißen Kreidefelsen erreicht, also noch einmal innehalten, durchschnaufen und dann kehre ich um.
Als ich aus dem Wald wieder draußen in der Stadt bin, ist es fast schon dunkel und die Straßenlaternen sind eingeschaltet.
Aber ich habe noch Zeit, gehe in Ruhe die Straße entlang, vorbei an Plattenbau-Wohnblocks und dazwischen ein paar alte Villen. Ein Pfad führt hinunter zum Meer, über Kopfsteinpflaster, zwischen alten Villen hindurch, ziemlich steil hinunter an den Strand. Inzwischen ist es stockdunkel.
Die Uferpromenade ist beleuchtet, aus den Lokalen duftet es appetitlich nach Essen. Ich habe noch eineinhalb Kilometer bis zum Bahnhof und eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges.
An der Hauptstraße ist eine Dönerbude. Vor dem Tresen warten ein paar Leute. Ich ordere eine Falafel, stapfe zum Bahnhof und als ich das Zeug auf der einzigen Bank sitzen aus der Alufolie packe, bekleckere ich mich mit Soße.
Sieben Minuten später kommt mein Zug.