Ich sitze im ICE nach Norden und wo ich aussteigen werde, weiß ich noch nicht: ich kann es mir aussuchen. Endlich mal keine Zugbindung! Draußen ist es bewölkt, regnet aber nicht mehr und hin und wieder entdecke ich ein paar Flecken blauen Himmels. Hier drinnen, im Speisewagen, habe ich noch 4 Freigetränke gut, die ich bis spätestens übermorgen auf den Kopf hauen muss. Muss ich natürlich nicht, ich könnte sie auch verfallen lassen. Aber was tut man nicht, wenn man schon mal etwas umsonst kriegt.
Also, dann: einen Kaffee bitte!
Es gibt nur Filterkaffee aus dem Pappbecher. Die „richtige“ Kaffeemaschine, also die Maschine, mit der man Cappuccino und lauter andere tolle Sachen machen kann, ist ausgefallen, und der Backofen auch, also gibt’s zu essen nur ein paar Sandwichs, noch nicht einmal Brötchen kann man aufbacken und weil es auch kein warmes Wasser gibt, dürfen sie aus hygienischen Gründen keine Packungen öffnen. Das könnte man zwar auch mit Handschuhen, darf man aber nicht. Egal. Tassen und Gläser gibt es deshalb auch nicht. Machen wir das Beste draus, sagt die Bedienung und stellt mir den Pappbecher auf den Tisch.
Der Zuckerstreuer ist kaputt. Anstatt in den Becher rieselt der Zucker über den ganzen Tisch, jetzt habe ich den ganzen Tisch voller Zucker und schiebe die Kristalle zu einem Häufchen zusammen. Wohin damit? Aschenbecher gibt’s nicht. Also warten, bis ich ausgetrunken habe, dann kann ich das Zuckerhäufchen mit der Serviette unauffällig in den leeren Becher schieben.
Mir gegenüber sitzt ein junger Mann mit Baby, das Baby lacht und gluckst. Die beiden gehen und dann nehmen drei Frauen Platz, reden spanisch, möchten Gläser für ihre Getränke, aber die gibt’s nicht. Weiß ich ja schon. Schräg vor mir in der Sitzgruppe trinken drei Männer Bier. Ich bestelle mir auch ein Bier, das gibt’s in der Flasche ohne Glas. Dazu knabbere ich heimlich an einer Brezel, die ich mir vom Bahnhofsbäcker mitgenommen habe, sowas ist ja eigentlich verboten.
Ein Bier auf nüchternen Magen haut ordentlich rein. Wie gut, dass mich hier niemand kennt. Schnell nochmal aufs Klo, dann umsteigen, sehen wie ich weiterkomme, vielleicht gibt’s ja im nächsten Zug eine funktionierende Kaffeemaschine. Auf dem Bahnsteig stopfe ich mir schnell den Rest meiner Brezel in den Mund und positioniere mich strategisch genau dort, wo der Speisewagen halten soll.
Der ist ziemlich voll. Ich finde einen Platz in einer Zweier-Sitzgruppe.
„Aber da sitze ich!“, sagt der griesgrämige Typ gegenüber. Kein Problem, dann gehe ich auf die andere Seite.
„Da ist doch meine Tasche. Sehen Sie das denn nicht?“
Vor ihm stehen ein Fläschchen Wein und eine ausgebreitete Zeitung, welche die gesamte Fläche des Tischchens beansprucht.
„Warum setzen Sie sich nicht anderswohin?“, fragt der Typ, fast milde gestimmt.
Nebenan wird gerade eine Vierer-Sitzgruppe frei. Darf ich die alleine blockieren? Tut mir leid, sage ich zu der Bedienung, die gerade auftaucht, dieser Herr hier braucht nun einmal zwei Sitzplätze. Ist in Ordnung, sagt sie, und bringt mir ein Bier. Die Kaffeemaschine ist auch hier kaputt: kein heißes Wasser, kein Geschirrspüler, nichts zu essen. Aber das kenne ich ja schon.
Mir gegenüber nimmt eine attraktive junge Frau Platz, südländischer Typ, langes schwarzes Haar, spricht auf englisch in ihr Handy und bestellt Apfelschorle und Sandwich. Der Griesgram steigt beim nächsten Halt aus.
Ich fahre bis Berlin. In der Lounge gibt es Kaffee und veganes Soft-Eis, aber das Wlan funktioniert nicht und der Handy-Empfang ist mehr als bescheiden. Na gut, man muss ja nicht rund um die Uhr online sein, aber ich wüsste doch gerne, wie ich hier weiterkomme.
Mit dem IC nach Rostock über Schwerin? Eine Dreiviertelstunde noch? Passt!
Also noch ein bisschen durchatmen, Handy aufladen, Kaffee trinken und in echten Papierzeitungen blättern, dann runter in den Keller, als der Zug gerade einfährt. Gammelige alte Großraumwagons, es ist stickig heiß, weil die Klimaanlage wohl ausgefallen ist und Steckdosen gibt’s auch nur ganz Wenige. Speisewagen auch nicht, dabei habe ich noch ein Freigetränk gut. Muss ich das etwa verfallen lassen?
Nächster Halt ist Schwerin. Da kann ich aussteigen, wenn ich will.
Tu ich auch: ein paar Stationen mit der Straßenbahn stadteinwärts, dann runter zum See, entspannter Spaziergang am Ufer entlang, am Schloss vorbei durch Altstadt und dann wieder zum Bahnhof zurück.
Weiter geht’s.
- Fortsetzung (zweiter Teil): Lost in Priemerburg
- Dritter Teil: Ein Spätsommertag am Meer: von Kühlungsborn nach Rerik
- Vierter Teil: Ein Tag mit Molli – die Museumsbahn von Doberan über Heiligendamm nach Kühlungsborn
- Fünfter Teil: Über Kröpelin und Wismar nach Hamburg