Im 19. Jahrhundert war Litauen Teil des Russischen Zarenreichs. Das Gebiet entlang des Kurischen Haffs einschließlich der Nehrung und der Hafenstadt Klaipeda (damals: Memel) gehörte jedoch zu Preußen beziehungsweise zum Deutschen Reich. Mit der in russischer Breitspur gebauten Warschau – Petersburger Eisenbahn wurde 1860 erstmals Vilnius erreicht. Kurz darauf entstand mit der Linie vom damaligen Königsberg in Ostpreußen (heute Kaliningrad) über Kybartai und Kanuas nach Vilnius eine Verbindung zwischen dem damals preussischen und dem russischen Eisenbahnnetz. Reisende aus dem luxuriösen Nord-Express von Paris nach Petersburg mussten damals an der Grenze umsteigen, Güter wurden umgeladen.
Dieser Grenzübergang besteht heute noch – wobei Russland jetzt paradoxerweise auf der anderen, westlichen Seite liegt; er dient heute fast ausschließlich dem Transitverkehr.
Nach dem ersten Weltkrieg wurde Litauen selbständig, wobei jedoch die Hauptstadt Vilnius mitsamt Umgebung von Polen besetzt war. Im Gegenzug annektierte Litauen das Memelgebiet und Klaipeda. Im zweiten Weltkrieg wurde Litauen erst von der Sowjetunion, dann von Deutschland und schließlich wieder von der Sowjetunion besetzt, Vilnius kam wieder zu Litauen und das ganze Land war bis 1991 Teil der Sowjetunion. Der internationale Bahnverkehr verlief hauptsächlich von Polen aus über die Stadt Grodno (Hrodna) im heutigen Weißrussland. Hier befand sich (und befindet sich immer noch) eine Umspuranlage, von dort ging es weiter nach Vilnius.
Seit 1991 ist Litauen unabhängig und gehört inzwischen mitsamt der anderen baltischen Staaten zur EU und zum Schengen-Raum. Die Grenze nach Weißrussland hingegen ist dichter geworden. Die Bahnverbindung von Grodno nach Vilnius ist jetzt unterbrochen. Eine Weile lang war Litauen von Polen und dem Rest der EU bahntechnisch weitgehend abgehängt.
Die Grenze zwischen Polen und Litauen ist gerademal etwa 100 Kilometer lang und als „Suwalki-Lücke“ von enormer strategischer Bedeutung. Ein einziger, normalspuriger, eingleisiger, nicht elektrifizierter Schienenstrang führt hinüber.
In Šeštokai, auf litauischer Seite, musste umgestiegen oder umgespurt werden. Zu Beginn der 2000er Jahre gab es hier kaum noch Personenverkehr, eine Zeitlang fuhr so gut wie gar nichts mehr.
Dabei führt das Normalspurgleis wohl inzwischen bis Kaunas, so dass ein durchgehender Zugverkehr von dort bis über die Grenze hinaus möglich ist. Eine Zeitlang gab es dann auch mal wieder Regionalzüge von Kaunas bis Białystok in Polen, allerdings nur an Wochenenden oder an einzelnen Wochentagen. In der Corona-Zeit wurden diese Verbindungen dann wieder ersatzlos gestrichen. Wer zwischen beiden Ländern reisen wollte, war auf Fernbusse angewiesen. Überhaupt hat man seit Jahrzehnten im Personenverkehr auf Busse gesetzt zu haben.
Das soll jetzt anders werden. „Rail Baltica“ heißt das ehrgeizige Projekt einer durchgehenden Bahnverbindung, die in den nächsten Jahrzehnten von Warschau über Białystok, Kaunas (mit Stichstrecke in die Hauptstadt Vilnius) und Riga bis in die estnische Hauptstadt Tallinn führen soll, Optimisten träumen sogar von einem Tunnel unter der Ostsee zwischen Tallinn und Helsinki.
In den baltischen Staaten wird jedenfalls bereits kräftig gebaut.
Seit 2023 gibt es wieder eine durchgehende Zugverbindung von Krakau über Białystok und Suwalki nach Kaunas und Vilnius. An der Grenze muss allerdings umgestiegen werden, vom polnischen lokbespannten Intercity auf den litauischen Triebwagenzug. Anstelle des alten Spurwechselbahnhofs Šeštokai hat man in Mockava – einem winzigen Dorf wenige Kilometer nördlich der Grenze in einem Rangierbahnhof einen neuen Personenbahnhof eingerichtet. Das Ganze wirkt ziemlich provisorisch, man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Bis dahin ist eine Bahnreise zwischen Polen und Litauen ein echtes Abenteuer für wahre Bahn-Enthusiasten.