Frühstück im Hotel in Sassnitz:
Demonstrativ nehme ich mir eine englische Zeitung mit – auch wenn es nur das Blättchen ist, welches in Londoner U-Bahn-Stationen kostenlos verteilt wird. Und ich lese auch gar nicht, sondern versuche, die anderen Gäste zu beobachten, wobei ich ziemlich bald merke, dass es da nicht viel zu beobachten gibt. Auch der Blick über die Ostsee ist heute nicht mehr ganz so postkarten-panoramamäßig, eher ziemlich diesig, nicht so richtig neblig, halt ein undefinierbares Grau. Der Himmel ist bedeckt.
Ich gehe ins Zimmer zurück, packe meinen Kram zusammen, krame lange herum, viel zu lange, breche um viertel vor 11 endlich auf, keuche mit schwerem Gepäck die steile Straße zum Bahnhof hinauf und erwische den Zug in allerletzter Minute.
Im Zug gibts Kaffee aus Thermoskannen, und zwar „zum Becherpreis von einer Mark“, wie man gleich nach der Abfahrt über Lautsprecher verkündet. Eigentlich brauche ich jetzt keinen Kaffee, aber um das Angebot zu testen bestelle ich einen. Während wir bei Lietzow malerisch auf der Landzunge zwischen den beiden Seen hindurchfahren, sucht die freundliche Zugbegleiterin für zwei Schweden eine Verbindung nach Stettin heraus, da sind sie aber bis 16 Uhr unterwegs. Ich beschließe, heute ebenfalls zur polnischen Grenze zu fahren; interessanter als die Hauptstrecke nach Stettin finde ich aber die Bimmelbahn auf Usedom.
Als wir in Stralsund angekommen sind, regnet es. Es regnet in Strömen. Ein richtiger Platschregen-Wolkenbruch. Ich begebe mich zum Auskunftsschalter und fange an zu recherchieren: mit meinem Ticket könnte ich heute Nacht nach Schweden und morgen wieder zurückfahren. Klingt auch nicht schlecht. Schweden oder Polen? Oder Beides? Bevor man mich jetzt für völlig verrückt hält, verabschiede ich mich, werfe das Gepäck in dein Schließfach und steige in den nächstbesten Zug. Es handelt sich um einen Interregio nach Osten.
Auf dem Tischchen breite ich alle meine Landkarten, Fahrplanzettel und Tickets aus und mache einen Plan. Ich verwirre sämtliche Schaffner mit komplizierten Nachfragen. Kann ich heute noch nach Polen und wieder zurück nach Saßnitz und weiter nach Schweden? Darf ich dann bei der Rückfahrt durchfahren bis Berlin?Draußen fliegen gelb blühende Rapsfelder vorbei und rote Backsteinkirchen. Es regnet immer noch. Greifswald fliegt vorbei. Dann kommt Züssow, da steige ich um.
Am Nachbarbahnsteig steht ein Zug mit einer roten DDR-Elektrolokomotive und zwei Doppelstockwagons. Der tuckert langsam durch die Wiesen bis Wolgast-Hafen, noch so ein Ort mit Backstein-Kirchturm. Den aber lasse ich links liegen, die wartenden Taxis ebenso, stattdessen gehe ich zu Fuß ein paar Meter bis zu einer blauweißen Hubbrücke, die über ein gar nicht so breites Gewässer führt: kein Fluss, sondern ein Meeresarm, auf der anderen Seite ist Usedom.
Gleich hinter der Brücke ist ein kleiner Bahnhof und da wartet ein blauweißer Schienenbus. Ein paar Touries trudeln ein, und dann der Fahrer: ein schlanker Mann mittleren Alters mit Vokuhila-Haarschnitt. Der Zugführer ist eher rundlich, mit Schnauzbart. Es geht los.
Im Führerstand klebt eine Plakette: „Maximalgeschwindigkeit 90 Km/h“, auf der Außenseite des Zuges stand etwas von 80 Km/h und in Wirklichkeit fährt er natürlich noch viel langsamer, ich glaube kaum, dass er jemals auch nur annähernd 70 km/h erreicht.
Die Strecke ist eingleisig, mit altertümlichen Flügelsignalen, scheint aber recht gut in Schuss gehalten zu sein. Die Bahnhöfe sind durchweg frisch neugestrichen, Bahnsteige neu gefliest, und auch die Schilder und Bänke sehen neu aus. Irgendwo zweigt die Stichstrecke nach Peenemünde ab, dann kommt ein größerer Ort und dann ein längerer Halt, wir müssen auf den Gegenzug warten. Fahrer und Zugführer steigen aus und machen Zigarettenpause.
Am nächsten Halt steigt eine Gruppe ein, wendet sich an den Fahrer: „Drei Erwachsene und Hund bitte“, der kann aber keine Tickets verkaufen und verweist auf den Zugführer: „der kommt durch!“. Tut er aber nicht, zumindest nicht bis zum übernächsten Halt und die Leute steigen wieder aus und sind kostenlos gefahren.
Mir fällt auf, dass es auf Usedom ziemlich viel Wald gibt, außerdem Binnenseen mit Schilf. Ein Pferdewagen mit einer fröhlich-feiernden Männerrunde verursacht einen Verkehrsstau. In Heringsdorf wechselt der Zug die Fahrtrichtung, dann kommt Ahlbeck und dann die Grenze. Endstation. Die Strecke endet an einem unspektakulären Prellbock, dann kommt ein Zaun und da ist Deutschland zu Ende, auf der anderen Seite Wald und Gebüsch.
Links von mir ist ein riesengroßer Parkplatz und ein Schild: „Der Ahlbecker Grenz-Markt begrüßt seine Gäste“. Es gibt ein paar Imbissbuden und Stände mit Souvenirkitsch, aber die Haupt-Action spielt sich auf der anderen Seite der Grenze ab. Die Straße endet hier und ist ein paar Meter vor der Grenze mit Blumenkübeln blockiert. Das Überqueren der Grenze ist nur zu Fuß möglich. Die Abfertigungsbaracken mit ihren Wellblechdächern wirken irgendwie provisorisch.
Der Beamte wirft nur einen kurzen Blick in meinen Pass und winkt mich dann durch. Der polnische Beamte ebenso. Wie bitte, noch nicht einmal einen Stempel bekomme ich?
Zwei Grenzpfähle stehen einander gegenüber, Schwarzrotgold und Rotweißrot. Dann eine vielleicht zehn Meter breite, gerodete Schneise durch den Kiefernwald: das war wohl früher mal so etwas wie ein Todesstreifen. Jetzt nicht mehr. Gleich dahinter steht eine Wechselstube. Für eine D-Mark gibt’s zweihundert Zloty. Aber in den Marktbuden links und rechts sind die Preise gleich in D-Markt ausgeschrieben. „Hier kannst du alles billig kaufen!“, steht auf einem handgeschriebenen Schild.
Eine schattige Allee führt ins Zentrum von Świnoujście, nach Polen hinein. Kopfsteinpflaster mit Schlaglöchern. Taxis und Pferdekutschen warten auf Kundschaft, ansonsten kaum ein Auto unterwegs, stattdessen viele Leute mit vollen Einkaufstüten, fast alle sprechen deutsch. Am Straßenrand sitzt ein Bettler, in seiner Schale liegen ausschließlich deutsche Münzen.
Über einem Torbogen ist eine Art Freiheitsstatue angebracht, dahinter gibt’s Käse und Wurst, Brot und Butter, Zigaretten und Schnaps, Vasen und Glaswaren, jede Menge Plastik-Kram und Ramsch, raubkopierte CD’s und Musikkassetten und alles was man brauchen oder auch nicht brauchen kann. Und vor allem Gartenzwerge, überall Gartenzwerge in allen Größen, Formen und Farben, an einem Stand gibt’s dazu eine Windmühle mit Schwarzrotgold-Rotweißroten Flügeln. Die Zigarettenhändler unterbieten sich gegenseitig im Preis.
Ich biege in eine Seitenstraße, da ist es still, von den Plattenbauten bröckelt die graue Farbe ab. Neben einem schäbigen Hotel liegt ein funkelnagelneuer „Night Club“, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Puff. Unter schattigen Kiefern gelange ich zur Strandpromenade. Kinder fahren mit ausgeliehenen Tretautos und die Erwachsenen tragen weniger Jeans sondern altmodische Stoffhosen.
Ich überquere die Dünen und gehe am Strand entlang in Richtung Westen. In greifbarer Nähe sehe ich die Seebrücke und den Kirchturm von Ahlbeck und dann kommt ein unscheinbarer rostiger Stacheldrahtzaun. Davor ein rostiges Schild, auf dem irgendwas auf polnisch steht, was aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutet, dass man die Grenze hier nicht überschreiten darf.
Auf einer Bank sitzen ein paar Leute im Rentenalter. Ein Mann winkt mir zu und deutet auf einen Trampelpfad, der durch die Dünen landeinwärts führt.
Der Pfad führt direkt am Zaun entlang und ich komme mir richtig verwegen vor, erwarte fast, jeden Moment auf eine Mine zu treten. Alle paar Meter stehen rote Warntafeln, darauf gekreuzte Knochen und Blitze. Ob der Zaun wohl immer noch unter Strom steht? Auf deutscher Seite entdecke ich im Gebüsch versteckt einen Kleinbus vom Bundesgrenzschutz.
Nach wenigen Minuten bin ich wieder bei den Zigarettenhändlern und gehe nach Deutschland zurück.
Ein Wanderweg führt durch den Kiefernwald und die Dünen zurück an den Strand, vorbei an dem Grenzschutz-Bus, den ich wenige Minuten zuvor von Polen aus gesehen habe.
Dann stehe ich am selben Strand wie vorhin, vor dem selben Stacheldrahtzaun auf der anderen Seite.
Vermutlich könnte ich auch die Rentnergruppe auf der Bank erkennen, wenn sie noch da wären, aber ich will nicht übertreiben und, nein, es winkt mir niemand von drüben her zu.
Ich drehe mich um.
Vor mir liegt die Seebrücke von Ahlbeck, zum Greifen nach – aber am Strand sind Entfernungen oft schwer zu schätzen. Ein Mädchen kommt mir entgegen: „Entschuldigung, wissen sie, wo es hier nach Polen geht?“
Grinsend deute ich hinter mich, zum Zaun, der gerade noch so zu erkennen ist.
Draußen auf dem Meer sind Ausflugsdampfer und Fähren. Hinter den Dünen lugen die Fassaden von Villen und Hotels hervor.
Ich erreiche die Seebrücke, darauf befindet sich ein Restaurant, in England wären da jetzt bunt blinkende Automatenspielhallen mit lautem Gedudel. Die Cafés an der Strandpromenade sind gut besetzt, viele junge Männer in Gruppen, einige in Fußballtrikots und Fan-Outfit. Einer telefoniert pausenlos mit seinem Handy, und wenn er nicht telefoniert, dann klingelt das Ding ununterbrochen. Vorbeilaufende Mädchen kriegen blöde Kommentare ab. Heute ist „Herrentag“ – das religionsfreie DDR-Äquivalent zu Christi Himmelfahrt, und offenbar nennt man diesen Tag hier immer noch so.
Ich nehme in einem der Lokale Platz, bestelle ein gemischtes Eis und bin froh, dass ich unter dem Vordach sitze, dann im Nächsten Moment geht ein Regenschauer nieder, ein richtig heftiger Pladderregen. Am Nachbartisch sitzt eine Gruppe von Herren mittleren Alters im Grad fortgeschrittener Trunkenheit, aber immer noch so, dass es als „gemütlich“ durchgeht. In regelmäßigen Abständen werden Schnapsrunden geordert.
Die Uhr am Uhrtürmchen zeigt kurz nach 6, ich muss mich allmählich auf den Weg machen und gehe die Strandpromenade entlang. In einem Vorgarten liegt ein Jugendlicher regungslos auf dem Rasen. Braucht er Hilfe? Nein, er steht auf, grinst und torkelt weiter.
Ich nehme die Bahn zurück in Richtung Festland, schlafe ein, wache auf, schlafe wieder ein und wache kurz vor der Endstation wieder auf. Dann muss ich zu Fuß über die Brücke: auf der anderen Seite wird schon kräftig gebaut, um die Bahn durchgängig auf die Insel zu führen, aber noch muss man ein paar hundert Meter weit durch eine Industriebrache bis zum Bahnhof Wolgast Hafen laufen, wo der Anschlusszug schon bereit steht.
In Züssen muss ein eine Weile auf dem verschlafenen Bahnhof warten, der Himmel hat sich wieder aufgeklart, der Himmel ist blau, es ist ein kühler, frischer Abend, Vögel zwitschern und die Luft duftet nach Blumen.
Dann kommt der Zug nach Stralsund.