Sassnitz auf Rügen, um fünf Uhr in der Früh. Draußen ist es schon hell. Ich bin im ersten Morgengrauen aufgewacht, vom Zimmer aus habe ich einen Blick aufs Meer, darüber ein weißlichgrauer Himmel. Ich bin in Deutschland, im äußersten Nordosten, dort wo zu DDR-Zeiten für die meisten Einheimischen die Welt zu Ende war. Was habe ich nicht alles schon erlebt in den letzten beiden Tagen! Das hat schon was!
Okay, es ist trotzdem noch viel zu früh, vor allem nach zwei fast schlaflosen Nächten. Ich drehe mich um, ich drehe mich um, und schlafe noch ein paar Stunden und begebe mich gegen neun Uhr zum Frühstücksbuffet. Das ist anders als in England: Gebratenen Speck, Spiegeleier, Würstchen oder gebratene Pilze gibts nicht, dafür frische Brötchen, viele Sorten Käse und Joghurt.
Jetzt muss ich mir eine neue Unterkunft für heute Abend suchen und begebe mich in die Touristeninformation, die befindet sich nebenan beim „Hotel Rügen“, einer blau-grauen Hochhausmonströsität. „Diese aufgestellte Streichholzschachtel“, so hat meine Hotelwirtin es mir vorhin beschrieben. Als ich wieder zurück bin, teilt sie mir mit, dass soeben ein Gast storniert hätte, ich könne also noch bleiben, wenn ich wolle. Das macht das Leben doch deutlich einfacher.
Ich ziehe meine Wanderschuhe an und breche auf. Das Verkehrsaufkommen in der kopfsteingepflasterten Hauptstraße ist eher mäßig. Am Bahnhof kaufe ich für 40 DM ein „Ferienticket“, welches mir den nächsten Tagen ungeahnte Mobilitätsmöglichkeiten bieten soll. In der Buchhandlung in der Fußgängerzone erstehe ich noch eine Landkarte.
An der Hauptstraße stehen graue Plattenbauten neben schönen alten Villen mit Holzgiebeln und Balkonen. Die Sträßchen und Gassen runter in Richtung Strand sind ungeteert oder mit Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher. Gleich am Ortsende beginnt der Nationalpark Jasmund. Ich gehe weiter durch den Buchenwald, rechter Hand schimmert hin und wieder das Meer durch und schon nach ein paar hundert Metern sehe ich die ersten weißen Kreidefelsen. Auf einem hölzernen Steg hat ein Typ eine Uralt-Fotokamera auf das Meer gerichtet. Es geht bergauf und bergab, manchmal ziemlich steil, einmal steht da ein verrosteter Turm im Wald dann erreiche ich einen Aussichtspunkt mit einer Platform über den Felsen.
Da geht es steil runter zum Meer und man hat einen schönen Blick auf die weißen Kreidefelsen. Ja, sowas gibt’s in England auch. Allerdings zugegebenermaßen, genau so eine Kombination aus Wald, Meer und Steilküste habe ich dort noch nicht entdeckt.
Ein Klübchen älterer Damen fotografiert einander gegenseitig, eine von ihnen drückt mir ihren Apparat in die Hand: „Junger Mann, könnten Sie mir auch bitte die Batterie wieder einsetzen? Ich bin ja bloß eine Frau!“
Von hier aus sieht man den Königsstuhl. Der ist auch bloß ein weiterer weißer Kreidefelsen, wenn auch ein ziemlich imposanter und großer. Oben ist er etwas abgeflacht, da stehen Leute drauf, von hier aus gesehen in Ameisengröße.
Die Damen unterhalten sich über die Tücken ihrer Kameras.
„Ziemlich diesig heute,“ sagt eine ihnen, „sieht bestimmt nicht gut aus auf dem Foto!“
Aber gerade das hat doch was: das Meer, dieser Nebel, der ab und zu aufreißt und die Sicht freigibt auf den Felsen mit den Leuten drauf, alles meist recht schemenhaft, und im Vordergrund die grünen Bäume… ja, man braucht wohl schon wirklich eine ziemlich gute Kamera, um das alles zum Ausdruck zu bringen und gute Bilder zu machen, oder man schaut es sich halt einfach nur an.
Der Königstuhl selbst kostet Eintritt, zwei Mark für Erwachsene, zahlbar an einer Bude, in der es auch Postkarten gibt.
In England würde er wahrscheinlich dem National Trust gehören und wäre kostenlos, mit Spendenbüchsen an jeder Ecke. Und wenn er doch Eintritt kosten sollte mit Bude und jemandem, der darin sitzt, dann wären es mindestens drei Pfund.
Nebenan stehen mehrere Schautafeln, und ein ehemaliges Hotel wird zum „Nationalpark-Haus“ umgebaut. Es gibt eine Diashow und eine kleine Ausstellung über den Nationalpark. Vor dem Gebäude stehen Picknick-Tische, an denen sich ein Trupp von Rentnern zur Mittagspause breitgemacht hat. In England wäre hier ein Charity-Shop des National Trust mit Büchern, Souvenirs und Kitsch.
Auf dem Parkplatz stehen neben einer Souvenir- und Würstchenbude mehrere Reisebusse aus allen Teilen Deutschlands.
Ich mache mich auf den Weg zurück, finde ein zünftiges Ausflugslokal und beschließe, Pause zu machen.
Eigentlich wollte ich zu Mittag essen, aber auf der Speisekarte gibt es nur Fleisch und Fisch und nicht ein einziges vegetarisches Gericht, also bleibt’s bei Kaffee und Apfelkuchen.
Ein älteres Ehepaar setzt sich zu mir an den Tisch. Sie bestellen zwei Kännchen Kaffee und Kuchen für sie. Er holt dann verschämt seine Packung Diabetiker-Kekse raus.
Sie stammen beide hier aus der Gegend, erzählt er, aber jetzt leben sie in Uelzen in Niedersachsen.
Er ist seit fünfundfünfzig Jahre lang nicht mehr hier gewesen.
„Als der Krieg kam, bin ich Soldat geworden,“ erzählt er, und nach Kriegsende hat er es vorgezogen, in den Westen zu gehen, „obwohl die mir gesagt haben, ich solle hier bleiben und beim Aufbau des Sozialismus helfen. Aber da wollte ich lieber nicht dabei sein.“
Sein Bruder sei hier geblieben.
„Später hat der gesagt, ich hab zweimal verloren. Eimal den Krieg und dann den Sozialismus. Die haben mir mein ganzes Leben geklaut. Und jetzt, wo ich es eigentlich genießen könnte, da bin ich krank.
Ich hab ihn mehrmals besucht, man kam ja schon rüber, mußte einen Besuchsantrag stellen, und derjenige, den man besuchte, mußte damit zur Polizei. Der Antrag wurde dann entweder genehmigt, oder ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Und wer da nachfragte, der machte sich schon verdächtig.“
Dann kommt er wieder auf seine Jugend zu sprechen:
„Als Zehnjähriger mußte ich bei der Grundsteinlegung zur Prora strammstehen im Spalier. Das haben die Nazis in achtzehn Monaten hochgezogen. Allerdings sind sie nicht fertig geworden, da kam ihnen der Krieg dazwischen.“
Er trinkt einen Schluck Kaffee und schaut aus dem Fenster.
„Im Krieg haben sie uns gesagt, pass immer auf, daß Du zuerst schießt. Wir hatten ja keine andere Wahl. Wenn Du nicht schießt, dann wirst Du selbst erschossen. Über den Menschen, der da auf der anderen Seite stand, wußten wir ja nichts. Und wenn man weiß, daß die da auf der anderen Seite genauso wenig die Wahl hatten, also warum sollte ich denen nachher böse sein?“
Er erzählt von den Feuersteinfeldern – die dienten der Nationalen Volksarmee der DDR später als Übungsgelände, die wellenförmigen Felder sind von Panzern und Geländefahrzeugen durchfurcht und kaum mehr zu erkennen. Und das Schloss Putbus ist noch in den sechziger Jahren abgerissen worden, weil es als dekadent galt. Ja, es hatte im Krieg ein paar Bomben abgekriegt, aber das hätte man aber durchaus wieder aufbauen können. Wollten sie aber nicht. Genauso wie die Kirchen verfallen sind, jetzt nach der Wende hat man natürlich Vieles restauriert. Manches ist aber nicht mehr zu restaurieren. Auch die alten Villen, die Pensionen an der Küste galten zu DDR-Zeiten als dekadent. Deren Besitzer sind enteignet worden, und aus den Häusern wurden FDGB-Ferienheime gemacht. Aber diese Architektur gefiel denen nicht, sie galt als zu dekadent. Und jetzt wird’s wieder im alten Stil neu gebaut, fast schon eine Art Serienproduktion. Aber von diesen richtig schönen alten Villen mit Holzbalkonen gibts nicht mehr Viele.
Ich gehe weiter, zurück in Richtung Sassnitz, noch etwa zwei Kilometer sind es. Unterwegs komme ich an der Piratenbucht vorbei, hier soll Klaus Störtebecker seine Schätze vergraben haben. Die werden von einer verwunschenen Jungfrau bewacht. Ob die wohl wirklich noch Jungfrau war, nachdem sie von Störtebecker und seinen Jungs gekidnapt wurde? Oder hatte das was mit der Verwünschung zu tun? Sollte ich mal versuchen, Frösche zu küssen, oder steht dann plötzlich Störtebecker selbst in voller Rüstung vor mir? Nee, das riskiere ich mal lieber nicht…
Ich mache Pause, schaue aufs Meer, gehe weiter und als ich wieder in Sassnitz bin, ist es auf der Kirchturmuhr schon halb sechs.
Die meisten Geschäfte sind schon geschlossen. Ich gehe zum Bahnhof und will mein Ticket ausnutzen: komme ich heute noch bis Binz und wieder zurück? Ein Zug steht bereit. Wenn nach nach Binz will, muss ich umsteigen. Aber wo? Zwei von den drei Schaffnern wissen nicht Bescheid. Die dritte, eine junge Frau mit halblangen blonden Haaren blättert eine Weile in ihrem Fahrplanbuch. Ab Lietzow ist Schienenersatzverkehr. Achtzehn Uhr zehn geht einer, sagt sie, aber dann schüttelt sie den Kopf. Nee, den kriegen Sie nicht mehr. Da nächste geht um Neunzehn Uhr vier. Gibts da eine Kneipe, in die man sich setzen kann? Die Schaffnerin schüttelt erneut den Kopf und empfiehlt mir dann, weiter zu fahren bis Bergen und dann wieder zurück.
In Sassnitz schien noch die Sonne, aber als ich in Bergen aussteige, regnet es, und zwar in Strömen. Zwei Jungs mit blondierten Haaren steigen ebenfalls aus. Scheißwetter, flucht der Eine. Gleis drei, ruft mir die nette Schaffnerin noch hinterher.
Der Warteraum ist voller Menschen und Zigarettenqualm und die einzige Bank ist besetzt. Eher aus Langeweile gehe ich nach draußen zu der Kebabbude, wo sich die großgewachsenen Jungs mit den blondierten Haaren und Springerstiefeln mit Kebab und Burgern eindecken. Schlagen sie jetzt dem türkischen Besitzer jetzt die Fresse ein?
Nein, der hat keine Angst und ist freundlich, noch freundlicher als gestern. Ein Bürgermeister ist ein Burger mit Salat und Kräutersoße. Ich bestelle ein Börek, den Preis kenne ich ja inzwischen. Und wenn ich nochmal herkomme, werde ich vielleicht mit Handschlag begrüßt.
Einer von den Jungs ruft einem vorbeigehenden Mädchen etwas zu, sie bleibt stehen, die beiden flirten ein paar Minuten und ziehen dann gemeinsam ab. Ich gehe zum Bahnhof zurück und kurz darauf kommt mein Zug.
In Lietzow ist immer noch strömender Regen und es gibt hier wirklich nichts außer einer winzigen Bude mit einem dreckigen Wartesaal, darin eine einzige Bank, darauf sitzt eine junge Mutter mit zwei Kindern und Gepäck. Daneben steht ein junger Typ und telefoniert.
Der Bus kommt. Im Dämmerlicht geht es am Fährhafen Mukran vorbei: eine riesige Anlage mit Bahngleisen und Kränen. Dann kommt Prora, ebenfalls eine riesige Anlage, wie eine Kaserne. Die junge Frau mit Kindern steigt aus, sie will wohl zur Jugendherberge. Ein paar Minuten später bin ich in Binz auf dem Bahnhofsvorplatz.
Der Bahnhof sieht von außen aus schick aus, ordentlich renoviert, aber drinnen ist noch DDR. Aber jetzt will ich erstmal ans Meer und suche die Strandpromenade.
Hier gibt es schicke Villen im alten Stil, entweder sorgfältig restauriert oder nachgebaut. Hinter einer Parkanlage mit Kiefern ist der Strand, darauf Strandkörbe und irgendwo wird ein neues Kurhaus gebaut. Es regnet nicht mehr. Ich denke darüber nach, wie sich ein deutsches Seebad von einem englischen unterscheidet.
Strand, Promenade, Pier und Imbissbuden sind auf den ersten Blick auswechselbar. Diese Villen mit den Holzbalkonen gibt es in England nicht, dort würde man viktorianische Backsteinfassaden erwarten. Dafür gibt’s hier an der Ostsee keine laut piepsenden Automatenspielbuden und auch kein Fish and Chips, nur hier und da mal einen Döner. Auch die Kultur der Strandcafés hat es noch nicht bis England geschafft, auch nicht die Strandkörbe. Und die Kurtaxe ebensowenig. Aber die wird hier um diese Jahreszeit zumindest noch nicht erhoben.
Über die schattige Hauptstraße gehe ich durch den Ort und suche den Kleinbahnbahnhof, wo der dampfbetriebene Rasende Roland entlang rasen soll. Den Bahnfhof finde ich, aber heute geht kein Zug mehr. Am Ufer des Binnensees steht eine Tafel, die den Lebensraum Röhrricht erklärt und die Gefahr, die von Algen ausgeht. Das Gewässer scheint mir, wie es aussieht, voller Algen.
Ich frage einen Typ mit Krawatte nach dem Weg zum richtigen Bahnhof. Die Bahnlinie ist für die nächsten drei Wochen gesperrt, erklärt er mir, da wird wohl eine Brücke neu gebaut. Und hier bauen sie gerade ein neues Geschäftszentrum zwischen Bahnhof und Strand, das wird einmal richtig schick.
In der Bahnhofshalle sitzen ein paar Jugendliche. Der Bus steht schon bereit, aber der Fahrer kommt erst gegen zehn nach neun. Du siehst aber süß aus sagt er zu dem Mädchen mit Afro-Löckchen. Die Jugendlichen steigen in Prora aus, danach bin ich der einzige Passagier. Es wird dunkel. Aus dem Radio dudeln Schnulzschlager. In Lietzow steige ich aus und habe zehn Minuten Aufenthalt. In Sassnitz ist alles ausgestorben, nur eine Kneipe scheint noch geöffnet, aber ich begebe mich gleich ins Hotel. Ein heißer Tee wäre jetzt nicht schlecht. In England gehört der Wasserkocher auf dem Zimmer zur Grundausstattung in jedem Hotel, aber ich bin ja hier nicht in England.