Auf deutschem Boden angekommen, brauche ich jetzt ein neues Ticket. Aber wohin will ich überhaupt? Im Prinzip einmal genau ans andere Ende des Landes, vom äußersten Westen in den extremen Nordosten.
Ich diskutiere mit der Dame am Schalter über die verschiedenen Fahrkartentypen, dann steige ich in den Regionalzug nach Düsseldorf.
Draußen sind dunkle Gewitterwolken aufgezogen und es beginnt zu regnen. Der Zug zuckelt an der niederländischen Grenze entlang, durch flache Niederrheinlandschaft und ich weiß nicht, ob es schwülwarm oder kühl sein soll. Richtig zwielichtig dunkel wird es draußen, ich sitze zwischen meinen Gepäckstücken, es wird Abend und ich habe keine Ahnung, wo und wie ich die Nacht verbringen werde. Jetzt blitzt und donnert es auch noch, ich döse ein, wache auf, Rheyd, Mönchengladbach und Neuss ziehen vorbei. Kurz vor Düsseldorf beschließe ich, jetzt richtig wach zu werden und steige aus.
Soll ich mir hier ein Hotel suchen?
Lustlos gehe ich durch die Stadt, trinke ein Bier, esse Börek und Fladenbrot und kehre dann doch wieder zum Bahnhof zurück. Es geht doch noch ein Zug nach Hamburg. Ich setze mich am Bahnsteig auf eine Bank und warte.
Neben mir sitzt ein Typ und tippt auf seinem Telefon herum, welches alle paar Minuten piepst, dann kommt wieder eine neue Kurznachricht an, der Typ tippt zurück und zwischendurch unterhält er sich mit seinem Kumpel. Ortsnamen fallen: Osnabrück, Ulm, Augsburg. Letztens habe ich da einen Lastwagen hingebracht, und dann haben die Bullen mich angehalten und wollten die Tachoscheibe sehen, dabei brauche ich doch gar keine. Er hat wohl einen Kirmesbetrieb, erfahre ich dann.
Der Zug hat Verspätung. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Der Typ neben mir schimpft vor sich hin.
Der Zug kommt, ich steige ein und bin ruck-zuck eingeschlafen.
Münster und Osnabrück ziehen im Halbschlaf vorbei, dann kommen Bremen, Rotenburg an der Wümme und Hamburg-Harburg. Draußen ist es längst hell geworden. Eine bläuliche Morgendämmerung liegt über Hamburg, die Elbbrücken in wunderbarem Licht. Der Tag verspricht, wunderschön und sonnig zu werden und ich freue mich darauf, heute noch an die Ostsee weiterzufahren auch wenn ich keine Ahnung habe, wo ich wirklich landen werde.
Ich steige aus, gehe die Treppen hinauf zu der Wandelhalle, schaue auf die Gleise hinunter, wo ein Zug sich gerade in Richtung Altona in Bewegung setzt, und gehe hinaus in die Stadt, durch die noch menschenleere Mönckebergstraße zum Rathausmarkt. Ich bin in Hamburg! Noch nicht ganz wach, aber in Hamburg. Tatsächlich in Hamburg!
In den Geschäftseingängen liegen Obdachlose in ihren Schlafsäcken, ansonsten ist noch kaum ein Mensch unterwegs. Die Eisbude neben dem Alsterpavillon ist verwaist, normalerweise tagsüber sind da immer ellenlange Menschenschlangen davor, denn trotz der einmaligen Lage hat die Kugel da immer nur eine Mark gekostet und das Eis war wirklich gut.
Ich schlendere durch die Colonaden, schaue in die Auslagen der Geschäfte, Antiquitäten, Briefmarken, Feinkost, was weiß ich was sonst noch alles. Am Dammtorbahnhof kaufe ich mir eine Cola und eine Zeitung und gehe weiter in Richtung Uni-Gelände. Ich bin völlig übermüdet, will mich einfach nur irgendwo hinsetzen, aber alle Cafés sind noch zu. Oh, doch, da ist ein Bäckereicafé, das kommt mir wie gerufen!
Ein kurzer Spaziergang an der Alster, dann steige ich am Bahnhof Dammtor in den Zug nach Stralsund. Eine unspektakuläre grüne Landschaft zieht vorbei, Wald, Wiesen Felder, dazwischen Schwerin, Bad Kleinen und Rostock, ziemlich flach alles und eintönig. Ich schlafe ein und wache auf, als ich in Riebnitz-Dammgarten umsteigen muss in den Schienenersatzverkehr-Bus. Der Bus steht im Stau, ich schlafe ein, wache auf und dann schleppe ich mich in Stralsund von der Bushaltestelle zum Interregio nach Rügen, der schon am Bahnsteig bereitsteht.
Neben mir im Abteil zwei Nonnen: „Jetzt fahren wir über den Rügendamm!“, verkündet die Eine erwartungsvoll. Schon gut. Wird schon stimmen.
Das Landesinnere von Rügen ist ziemlich unspektakulär, grün und flach, nicht anders als das Festland. In Bergen muss ich wieder umsteigen. Nach Binz gibt’s wieder Schienenersatzverkehr, der Zug fährt weiter nach Lietzow, wo auch immer das liegen mag, aber wenn man anderswo hin will soll man hier umsteigen. Jetzt habe ich eine halbe Stunde Zeit. Was will ich hier? Gegenüber vom Bahnhof ist ein tristes Hotel-Restaurant, in dem es Soljanka gibt und Schnitzel mit Sättigungsbeilage. Und sonst?
Eine Kebab-Bude gibt’s noch. Davor ein paar Jugendliche, alles blonde Jungs mit ziemlich kurzen Haaren, sie bestellen Kebab und „Bürgermeister“. Was ist ein Bürgermeister? Der türkischstämmige Inhaber verkauft mir gutgelaunt ein Börek, das dauert ein paar Minuten. Es beginnt zu nieseln, aber unter dem Vordach der Bude steht man im Trockenen.
Der Fahrkartenschalter ist noch geöffnet. Aus Langeweile erkundige ich mich nach den verschiedenen Sonderangeboten, die es hier gerade gibt und erwerbe ein Ferienticket, welches mir unbeschreibliche Freiheit verheißt.
Im abendlichen Dämmerlicht geht es weiter im Doppeldecker-Bummelzug nach Sassnitz, zwischen zwei Seen hindurch, dann Wald und leichthügelige Landschaft.
Sassnitz ist Endstation und am ist alles ausgestorben, auch die Bahnhofsgaststätte ist geschlossen. Der Ort ist menschenleer. Eine leicht abschüssige Straße führt hinunter in Richtung auf das grauweißlich durchschimmernde Meer. Grauschwarze Plattenbauten neben heruntergekommenen alten Villen mit schönen Holzbalkonen. Die Touristeninformation hat gerade eben vor wenigen Minuten geschlossen.
Es gibt ein paar Hotels, ich frage beim Nächstbesten nach, nein, ab morgen ist alles ausgebucht, für heute wäre noch was frei, allerdings ein Doppelzimmer, kann sie mir geben, wenn ich will. Ich bin hundemüde, checke ein und falle ins Bett.