Heute will ich mir alles mal in Ruhe anschauen. Gestern Abend hat mich diese Stadt zugegebenermaßen fast in den Wahnsinn getrieben: vier- bis sechsspurige Boulevards, über die der Verkehr tobt und kilometerlang kein Überweg, dann ein endloses Kneipenviertel wie eine Mischung aus Ballermann und St. Pauli, und das bei abends immer noch knapp unter 30 Grad… und dann noch dieser riesengroße Palast und die kaum weniger megalomanisch ambitionierte Kathedrale daneben, das alles muss man erst einmal verdauen.
Aber wenn man sich mal zurücklehnt, dann hat diese Stadt doch eine tolle Atmosphäre, vor allem gibt es hier eine Menge wirklich schöner Parks und dort spielt sich im Sommer das wahre Leben ab, heißt es. Wenn’s denn wahr ist…
Mein Plan: zunächst einmal will ich mir diese Riesenkirche aus der Nähe anschauen. Sobald ich das Hotel verlassen habe, aus dem klimatisierten Foyer hinaus auf die Straße, schlägt mir die Hitze entgegen und dann donnern die Autos an mir vorbei. Die Kirche sieht zwar aus der Ferne samt Türmen und Nebengebäuden schon eindrucksvoll aus, die Baustelle ist aber der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Und in der Nähe gibt’s nur Zäune, Mauern und verkehrsreiche Straßen.
Aber schon ein paar hundert Meter beginnt ein fast kleinstädtisch wirkendes Viertel mit schattigen Alleen, Villen und Wohnhäuser mit Gärten, dazwischen kleine Läden, eine Kirche, ein Park und dort finde ich auch eine Metro-Station.
Jetzt will ich dieses „Nationale Dorfmuseum“ finden, ein Freilichtmuseum über das bäuerliche Leben in diesem Land. Mit der Metro fahre ich in den Norden der Stadt. Die Autos brausen auf schnurgeraden breiten Boulevards an einem Triumphbogen vorbei, der demjenigen im Paris nachgebildet ist, aber gleich nebenan liegt der König-Michael-Park: ein wunderschöner Park mit schattigen Bäumen, und schon nach wenigen hundert Metern entdecke ich ein Café, in dem ich mich vom Grosstadtlärm erhole.
Bis zum Eingang vom Freilichtmuseum ist es nur ein entspannter Spaziergang. Ich zahle den Obulus von 40 Lei und mit einem Male fühle ich mich in eine ferne Vergangenheit versetzt.
Ich spaziere durch ein Dorf aus vielen kleinen Häuschen unterschiedlichster Bauarten, wie sie in den verschiedenen Regionen dieses Landes typisch sind und waren: flach, weißgekalkt und mit Holzschindeln gedeckt, oder mit Stroh, manchmal auch fröhlich bunt oder ganz aus Holz, prächtige geschnitzte Eingangstore, Wind- und Wassermühlen, Weinkeltern und mehrere Kirchen. Die Häuser sind schön anzusehen, aber winzig klein, wenn man bedenkt, dass hier seinerzeit große Familien auf zwei oder drei Zimmern gehaust haben müssen.
Und dann wird mir plötzlich klar: einige dieser Häuschen sind knapp dreihundert Jahre alt, die meisten aber stammen aus dem 19. oder sogar aus dem frühen 20. Jahrhundert und sind damit nicht älter als die steinernen Prachtbauten in der Innenstadt. Was bedeutet, dass in derselben Zeit, in welcher nicht nur hier, sondern in vielen anderen Großstädten auch prächtige Villen, Theater, Regierungsgebäude und andere Prachtbauten entstanden, der größte Teil der Bevölkerung in bitterer Armut in so winzigen, Hütten gehaust haben, wie sie hier zu sehen sind.
Stunde um Stunde verbringe ich hier und versuche, mir vorzustellen, wie es damals wohl gewesen sein muss: es ist wie eine kleine Reise durch das ganze Land. Ich sehe Häuser aus den Karpaten, aus der Dobrudscha, von Siebenbürgen und aus der Bukowina – und abgesehen davon ist es hier herrlich ruhig, kühl und schattig.
Um sieben Uhr schließt das Museum. Ich habe jetzt gerade so gar keine Lust auf sechsspurige Boulevards und donnernden Autoverkehr, also bleibe ich hier im Park. Am Ufer des Herăstrău-Sees find ich eine ganze Reihe von Getränke- und Imbisständen.
Ich gehe durch den Park, einige Wege sind beleuchtet, überall fröhliche Menschen. Von irgendwoher höre ich Musik. Ist da irgendwo eine Volldampf-Disco? Nein, es ist nur ein ganz normales Restaurant, aber die übliche Lautstärke ist hier nun einmal etwas höher als im Norden…
