Im Billig-TGV von Paris nach Stuttgart

Sonntagnachmittag, blauer Himmel über Paris. Auf dem Platz vor dem dem Gare de l’Est haben sie einen „Garten“ aufgebaut, mit Kunstrasen und Bänken, alles sieht ganz entspannt aus, aber der Eindruck täuscht.
Drinnen, in der Bahnhofshalle, herrscht Chaos. Menschen, Menschen, Menschenmassen, einfach nur Chaos, Gewusel, Gewimmel, ein furchtbares Tohuwabohu.
Mein Zug geht um 16:07 Uhr. Jedenfalls sollte er eigentlich um diese Zeit abfahren. Es handelt sich um einen Billig-TGV der Marke „Oigo“, und für den gelten besondere Regeln: man muss eine halbe Stunde vorher am Bahnsteig sein. Dort werden die Tickets kontrolliert und dann wird man in den Zug gelassen. Das ist das Prinzip. Nur: an welchem Bahnsteig muss ich eigentlich warten?
Es gibt Anzeigetafeln, da stehen alle möglichen Züge drauf, auch Meiner. Bei den meisten Zügen steht auch, von welchem Bahnsteig sie fahren. Bei meinem nicht. Noch nicht. Aber wird schon noch werden, ich habe ja Zeit… Zeit für einen Kaffee? Warum nicht?
Es gibt keinerlei „öffentliche“ Bänke oder Sitzgelegenheiten in dieser Bahnhofshalle, und die Cafés sind überfüllt. In der Starbucks-Filiale entdecke ich einen freien Tisch und setze mich. Gegen ein koffeinhaltiges Heißgetränk hätte ich jetzt wirklich nichts einzuwenden – selbst nicht gegen einen überteuerten Plastikbecherkaffee von Starbucks – aber die Schlange vor der Theke ist endlos und wenn ich mich da anstelle, ist mein Sitzplatz unter Garantie innerhalb von Sekunden wieder weg. Also bleibe ich sitzen, ohne Getränk.
Es geht auf halb vier zu, auf viertel vor vier und immer noch ist kein Bahnsteig angegeben. Allmählich werde ich nervös.
Blick aufs Handy, da ist eine Nachricht angekommen: es gebe eine Verspätung, man solle sich um 16:22 Uhr „beim Empfang am Bahnsteig“ bereithalten. Danke schön für die Info, bloß habt ihr mir noch immer nicht gesagt, an welchem Bahnhsteig, und dieser Bahnhof ist verdammt groß!
Also bleibe ich erstmal sitzen.
So gegen viertel nach vier werde ich dann doch unruhig. Da sind mehrere Züge nach Strasbourg angeschlagen, einer nach dem Anderen fährt ab. Habe ich eine Durchsage überhört? Gut möglich, denn bei dem Lärm hier kann man rein gar nichts verstehen und meine Französisch-Kenntnisse sind jetzt auch nicht allzu berauschend. Ich stehe auf und mache mich auf die Suche.
Tatsächlich werde ich fündig, im hintersten Winkel des Bahnhofs, am allerletzten Gleis: da steht ein „Oigo“-TGV am abgesperrten Bahnsteig, daneben ein deutscher ICE, am Bahnsteig-Eingang vier Uniformierte und dahinter eine Menschenmenge. Aber kein Schild, keine Anzeige.
Ich bewege mich durch die Menge nach vorn, frage einen der Uniformträger: Wann fährt dieser Zug? Schulterzucken. Einfach Warten!
Bin ich hier überhaupt richtig? Der Uniformierte quält sich einen Blick auf mein Ticket ab und nickt.
Warum wird der nirgendwo angezeigt? Schulterzucken.
In der Schlange komme ich mit einer Dame ins Gespräch, die Deutsch spricht: das sei hier wohl immer so, die „Oigo“-Züge werden oft auf den offiziellen Anzeigetafeln nicht angezeigt, man muss halt wissen, dass sie immer hier von diesem Bahnsteig aus losfahren. Sie selbst will mit dem deutschen ICE nach Frankfurt, der ist ausgebucht und sie hat kein Ticket, aber man könne auch beim deutschen Schaffner noch nachträglich ein Ticket zum Bordpreis erwerben, in deutschen Zügen ginge das.
Dann wird der Zug zum Einsteigen freigegeben. Nix mit Ticketkontrolle, die Meute drängt einfach los auf den Bahnsteig.
Die französische Zugchefin erzählt etwas von einer Dreiviertelstunde Verspätung, obwohl wir inzwischen schon fast eine ganze Stunde zu spät dran sind. Und dann geht es auch los. Von nun an ist die Fahrt unspektakulär: draußen Landschaft, nicht mehr so platt, eher hügelig, Wiesen, knallgelbe Rapsfelder, kein kitschig blauer Himmel, eher dunstig-bedeckt, aber nicht düster. Also Augen zu.
Der Zug ist bis auf den letzten Platz besetzt, zumindest fast. Familien mit kleinen Kindern, die beschäftigt werden wollen. Junge Leute. Der Typ neben mir spielt mit seinem Handy. Ich habe Meines ausgeschaltet: es gibt auf meinem Platz keine Steckdose, dafür hätte ich einen Aufpreis bezahlen müssen. Also muss ich mit meinem wertvollen Akku-Strom sorgfältig haushalten. Wlan gibt’s natürlich auch nicht, gar nicht, auch nicht gegen Aufpreis, zumindest nicht in diesem Wagon. Seit der Buchung habe ich mehrmals am Tag Emails bekommen, in welchen man mir – ausschließlich auf französisch – irgendwelche kostenpflichtigen Extras anbieten wollte, Wunsch-Sitzplatz, allein oder mit Steckdose, Extra-Gepäck, oder was weiß ich was sonst noch, habe ich nicht verstanden und weggeklickt. Auch die Größe und Anzahl von Gepäckstücken war ein Thema, aber jetzt kümmert das Niemanden, es gibt ausreichend Platz fürs Gepäck, und niemand zählt hier die Koffer durch oder misst sie gar noch ab.
Hin und wieder gibt es Durchsagen, hin und wieder taucht sogar eine Zugbegleiterin auf, um einem einem Fahrgast irgendwelche Anschlussverbindungen zu erklären.
Dann Halt in Metz. Leute steigen aus. Leute steigen ein. Der Zug bleibt stehen, bleibt ziemlich lange hier stehen. Leute steigen aus und nutzen die Zeit um draußen auf dem Bahnsteig eine zu rauchen, Alle scheinen ziemlich entspannt. Warum geht es nicht weiter, obwohl wir doch über eine Stunde Verspätung haben müssen? Habe ich noch eine Chance, heute Abend über die deutsche Grenze zu kommen? Ob es hier in Frankreich so etwas wie Fahrgastrechte gibt? Ich werde schon wieder nervös und die Raucher am Bahnsteig schauen mich nur kopfschüttelnd an.
Endlich geht’s weiter. Es ist sogar leerer geworden, ich kann mich in eine freie Vierersitzgruppe umsetzen. Der Zug hat die Fahrtrichtung gewechselt. Mir gegenüber sitzt eine eine Mutter mit drei kleinen Kindern. Das Kleinste schreit, die beiden anderen spielen ein Kartenspiel.
Die Durchsagen sind verwirrend, aber es scheint, die Verspätung sei wohl doch inzwischen geringer als befürchtet und es gäbe tatsächlich noch einen Anschlusszug nach Deutschland… der wird natürlich ziemlich voll sein, vermutlich ausgebucht, und ob ich ihn mit meinem Ticket nutzen darf, weiß ich nicht, aber ich habe ja gelernt, dass man es riskieren kann…
Ich stehe auf, nehme meine Sachen, begebe mich in den Zwischenraum vor den Türen, wo schon andere Leute stehen: eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die mal deutsch, mal französisch sprechen.
Der Zug nähert sich Strasbourg, wird langsamer, kommt zum Stehen. Ich steige aus, hechte von Bahnsteig 3 die Treppe hinunter und wieder hinauf auf Bahnsteig 1 und dann kommt auch tatsächlich ein Zug.
Gibt’s hier einen Speisewagen? Okay, es ist halt ein Plastik-Bistro im Obergeschoss, aber immerhin finde ich einen freien Hocker, ordere einen Kaffee und nehme Platz.
Der Zug rollt durch Stadtlandschaften, über den Rhein, an Kehl vorbei in Richtung Karlsruhe. Schräg gegenüber von mir sitzt eine größere Gruppe, sie politisieren über die Präsidenten-Wahl, dann geht es um Pferde und um Hunde.
Kurz vor Karlsruhe bestelle ich mir ein Bier. Bald hab ich’s geschafft, bin wieder daheim!

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